Erfurt hat Blähungen

Velvet Morning.

Man muss sich verlieren und darf sich nicht wiederfinden: dann hat man sich verstanden und kann sich dem zweiten Schritt widmen: aus dem Bett steigen und gemahlen werden vom grellen Straßenlärm, vom gleißend-grauen Himmel, von den trägen Körpern und ihren von traumlosem Schlaf überfahrenen Gesichtern, unempfänglich für die antidepressiven Potentiale einer echten Utopie. - Mangel an Utopie macht Menschen depressiv oder faschistoid. Im Deutschen kommt beides zusammen. Er liefert damit die Blaupause für einen soliden, mittelmäßigen Konservativismus aller erster Klasse. Die einzige Utopie, der sich ein Depressiver gewachsen fühlt, ist der Selbstmord. - Man wird jede Utopie missverstehen, wenn man keine Kraft für sie hat.

Ich bin eine Art Maulwurf und möchte eine Art Bundespräsident werden und die Straßenbahn hätte mich beinah erwischt, sie klingelt aufgeregt und leuchtet wie ein Karussell auf dem traurige Kinder fotografiert werden von ihren aufgeregten Eltern. Man könnte denken, die Straßenverkehrsordnung wurde von Fahrzeugen und nicht von Menschen geschrieben. Ich bin wirklich sowas wie ein Maulwurf, ich grabe und grabe mich zur Sonne, ich grabe mich aus der Dunkelheit, um zu erblinden und möchte sowas wie der Bundespräsident sein. Je ernster ich diese Metapher nehme, desto erfolgreicher werde ich sein. Ich bin eine liebe, runde Oma und möchte ALLE zum Kaffeekränzchen zusammenrufen."Natürlich kommt niemand!", schlägt sie sich an den Kopf und lässt eine fette, schneeweiße Titte aus ihrer blauen Blümchenschürze hervorschluppen wie einen mit Quark und Hüttenkäse vollgestopften Hoden, der schwarze Stacheln zum Schutz vor listigen Raubvögeln ausgebildet hat. Es ist Mitte März und Omi beißt sich die Zunge ab und blutet aus dem Mund, noch immer klatscht niemand, noch immer halten sie alle für einen Hochstapler, ihre Laune ist in eine undenkbare Dimension geschraubt, ihr Kopf leuchtet Gelb.

Die Menschen müssen sich befreien: durch naturwissenschaftliche, kulturelle und psychedelische Bildung. Die Welt muss zu einem gesunden Dorf zusammenwachsen: wenn ich mich drei Wochen lang nicht gewaschen habe und mich auf den sonnigen Domplatz stelle und Touristen bunte Tauben füttern sehe, hat sich mein Ich in einen Blumenstrauß verwandelt.

Mein Körper ist der einzige Raum über den ich verfüge. Die zwei radikalsten Ebenen: Ich und die Anderen. Wenn alles verbunden ist, bin ich alles. Bewusstsein haben fühlt sich immer gleich an. Alle Menschen müssen synchronisiert werden. Kollektive Euphorie ist eine Waffe.

"Wenn Sie mir das Gras wegnehmen, dann sitze ich den ganzen Tag in Erfurt fest!", brüllte der alte Mann seine Sachbearbeiterin in die Knie. Sie beteuert, dass sie nur geltendes Recht umsetzt. Soll er sich doch ein Hobby oder eine Arbeit suchen! - Im Straßenbahnradio kommt "Charley don't surf!" von The Clash, wir hören genau hin, drücken unsere Köpfe an die kalte Scheibe und ich bin so kreativ, dass ich Angst hab kreativ zu sein. "Mal sehen ob es sich lohnt!", sagt die schleimige, salzige Schnecke und fährt durch die Stadt, mit zugekniffenen Augen, dem Herz am rechten Fleck, der Samstagnachmittag zieht wie eine freundliche, dicke Kassiererin vorbei und ich stolpere und mach halt so Zeug. Reicht es nicht, dass ich die bunten Straßen vor meinem grauen Haus ernst nehme?

Musik erschafft den Raum für bestimmte Gedanken, ihr versucherisches Dahinliegen, ihre grelle, grüne Plörre, geräumiger Geräuschgarten, eine liebe, hoffnungsvolle Tante und die Frage, was wirklich wichtig ist, jenseits der Nachrichten und Romane und Filme. Eine gute Frage, die ich mir mit etwas Gebäck und Milchkaffee stelle. Es geht ja im Grunde darum, was Musik genau anspricht. Mein Fuß ist eingeschlafen und irgendeine Tür quietscht hier. Ich verziehe mein Gesicht wie der Bürgermeister, wenn er sich mit kleinen Babys fotografieren lassen muss.

Cannabis ist die beste Medizin für Nichtsnutze, denn die halten es bei sich am besten aus, wenn sie psychedelisch erweitert sind. Cannabis löst den depressiven Charakter der Langeweile auf und lässt die Welt wie nach einem schäumenden Gewitter in frischem Licht erstrahlen, Selbsterkenntnis zum Discounterpreis. Meine Mutti macht sich bestimmt Sorgen. Cannabis ist die beste Medizin für Leute, die plötzlich alles hinter sich lassen im Augenblick, wo sie bei Rot über die Ampel gehen.

Jede Wiederholung will dich versteinern. Man ist nur in dem Augenblick "man selbst", wo man es genießt, etwas zu tun was man bisher nicht getan hat. All deine Gewohnheiten haben es auf deine Substanz abgesehen wie unersättliche, nihilistische Gremlins.

Jede Sekunde ist eine Prüfung, der man sich nicht aussetzen muss. Ich drehe meiner Zukunft den Rücken zu und sehe in die Vergangenheit wie ins Innere einer Spieluhr, die man zwischen meinen Schulterblättern angebracht hat.

Jedes Gehirn ist eine Insel im Ozean des Seins und ein unendlicher Brunnen im Garten des Lebens.

Das Alltagsleben definiert die Qualität des Traums. Indem man den Alltag verändert, verändert man seine Träume. Das bewusste Leben im Wachzustand ist nur ein Werkzeug, um Träume zu erfahren und zu gestalten. Dein Bewusstsein tankt dein Unterbewusstsein auf, dein Ich ist also nur der Tankwart. Der Wachzustand dient dazu, Wartungsarbeiten durchzuführen, Nahrung aufzunehmen und über die Träume zu reden. Aber vielleicht sollte ich vielleicht eine Schere vielleicht für diesen Essay vielleicht benutzen vielleicht.

Die Schere.

Indem ich mir darüber im Klaren werde, dass ich psychisch von Cannabis abhängig bin, verwirkliche ich mich als mündiges Individuum in Europa, während die konservativen Briten aus der EU aussteigen wollen und während Deutschland Europameister zu werden droht, in dem Jahr als Roger Willemsen starb, der mir zusagte, bei meiner Youtube-Talk-Show das Stachelschwein zu spielen. Immer wenn ein Prominenter stirbt, seufze ich ungerecht hinterher: "Und Roger Willemsen ist immer noch tot..." Dieses Mantra begleitet mich und unter Cannabiseinfluss spüre ich seine Brisanz: wenn Europa keine Festung werden soll, müssen die Kulturschaffenden dagegen anschaffen gehen. - Ich bin also süchtig nach Cannabis, habe einen steifen Nacken, großartige Freunde

Die Behörden haben sich in Stellung gebracht, die Anwälte haben ihre Tintenfüller gezückt, die Repressionsmaschine rückt mir bald richtig auf die Pelle und ich werde ganz ganz gründlich die Konsequenzen aus meiner künstlerischen Arbeit der letzten Jahre ziehen und aus meiner durch Cannabis, Ambientmusik und Schlaflosigkeit herbeigeführte Dissoziation ein Happening machen, mit dem ich bis in den Europäischen Gerichtshof touren werde, wenn es sein muss: "Nein, Herr Richter! Ich bin nicht verrückt oder gesund, ich bin nicht verantwortlich, es gibt mich gar nicht, ich weigere mich, ein Subjekt zu sein!" Diese Verteidigungsstrategie will ich als erster ernst nehmen und konsequent durchziehen. Ich möchte kein Künstler sein, ich möchte kein Politiker sein, ich möchte kein Bürger sein, ich möchte kein Individuum sein, ich möchte keine feste Eigenschaften haben, ich möchte nicht in mir gefangen sein oder mich auf irgendwelche festen Begriffe verlassen.

Unerwartet großartige Zeiten, in denen seltsame Blumen blühen und wunderbare, zufällige Begegnungen stattfinden, ich finde häufiger als sonst Geld auf der Straße, ich finde ganz automatisch Leute, die von ihrem Ich loskommen wollen, es ist toll wie schnell David und Jannik und Felix zu meinen besten Freunden geworden sind, sie sind im Frühling nacheinander im Abstand von etwa einem Monat dazugekommen, und schon kann ich mir ein Leben ohne sie gar nicht mehr vorstellen: wie arm und unvollkommen und einsam war ich ohne sie! Sie wissen vielleicht gar nicht, wie viel lebenswerter sie mir Erfurt in diesem Sommer machen.

Über allem leuchtet ein roter Stern der Hoffnung: alles ist erlaubt, das verhindert, dass ich mich mit Erfurt identifiziere. Alles.

Aber ich möchte nicht, dass Du an einer von mir bestimmten Stelle zu lesen beginnst.  "Es ist unmöglich, einen guten ersten Eindruck zu machen!", schrieb der Geek ohne Eigenschaften in diese Textdatei. Ich möchte nicht, dass Du an einer von mir bestimmten Stelle zu lesen beginnst, also bitte lies irgendwo wild rein. Lies jetzt hier nur weiter, wenn du keine Lust hast, zufällig einen Startpunkt zu suchen. Um meinem Ziel, Erfurt abzuschaffen, möglichst nah zu kommen, darf dieses Buch keine Chronologie, keine Geschichte haben, kein Zentrum und keinen zentralen Protagonisten. Es durchbohrt mit jedem Kapitel von Neuem den nüchternen Sachverhalt: der schlaflose Niemand in einer depressiven Stadt, gutes Gras und der Lust jemanden zu töten oder jemandem das Leben zu retten. Ich schäme mich ein bisschen und überlege, ob ich noch etwas spazieren gehe. Ich möchte, dass dieses Buch authentisch ist und ich möchte darüber reden was authentisch bedeutet, ob es überhaupt ein Ich gibt, an welchem man ablesen kann, was authentisch ist und was nicht. Man ist immer auf ein Ziel hin eine Person. Wenn man nichts mehr will, ist man niemand mehr. Der schlaflose Niemand erfindet ein Ziel und erfindet damit sich selbst. Ich kann mich nur noch mit meinem Schreiben identifizieren - das heißt: das Schreiben ist authentischer als das Geschriebene. Als produktiver Niemand ist man auf das Wesentliche zurückgeworfen: die Tat ohne Täter. In dieser Perspektive ist man unbestechlich, wetten?

Ich lasse alles durch mich hindurchströmen: den Abgas-Skandal von Volkswagen, der unseren ganzen deutschen Stolz herausfordert und der Pegida-Chef wird wegen Volksverhetzung verurteilt und Trump gewinnt offenbar auch Indiana und Frankreich kürzt seine Sozialleistungen für die Ärmsten und die Panama Papers zeigen, wer die wirklichen Feinde unserer Zivilisation sind und im Mittelmeer ertrinken Flüchtlinge und von der Leyen rüstet die Bundeswehr auf und auf den Philippinen wird ein großmauliger Bürgermeister Präsident ein und schwuler Junge wird in Saudi-Arabien mit einer Machete geköpft und mein Fuß ist eingeschlafen und die deutsche Popmusik ist einen sehr sehr subtilen Furz wert, und ich furze ihn, während die Faschisten im Stadtzentrum zu Tausenden sich im Sinne der alten Schaltpläne synchronisieren und ich trinke einen Kaffee und schreibe jeden Tag ein Vorwort zu einem Buch, das es nicht gibt, um daraus ein Buch zu machen über Dissoziation als Medizin gegen das Erfurt-Syndrom, eine sehr mittelmäßige, langweilige Form der Depression.

Dieses Buch erzählt nicht, es strahlt, es rotiert um einen unendlichen Anfang, es meditiert am Quell aller Kreativität über die Unfähigkeit, frei zu sein, wenn man sich entscheiden will, jemand zu sein. Es soll um das Strahlen gehen, nicht um das Angestrahlte. Wo landet man, wenn man keine Umwege über das Ego oder einen Beruf geht? Diese Frage ist meine zentrale Hoffnung.

Also: es gibt einen Körper, der Dinge wahrnimmt und die Umwelt gestalten kann, aber es gibt kein Zentrum, also weg mit dem Zentrum, weg mit dem Zentrum! Ich bin genervt von Geräuschen über mir und verliere mein Zentrum, ich hoffe es fängt bald an zu regnen und gleichzeitig nicht, seitdem ich vegan lebe, geht es mir körperlich und psychisch viel viel viel besser und das kann ich nicht bezweifeln und diese völlig klare Gesundheit macht arrogant: ich wünschte, alle respektlosen, gierigen Fleischfresser würden an schwarzem, rasiermesserscharfem Magenkrebs jämmerlich krepieren in einer düsteren Garage am Rand der Stadt. Ich bin meine Gesundheit, ich bin die Wahrnehmung meines gesunden Körpers, aber ich bin nicht meine Gedanken, nicht meine Worte, nicht meine Werke. Nicht ich bin es, der dieses Buch schreibt, sondern das, was diese Worte mit euch machen, ist Gegenstand dieses Buches, das zufällig in dem, was es beinhaltet, entstanden ist. Diese Verschränkung ist Grundlage meiner Philosophie der Abschaffung von Erfurt.

Erstmal war es wichtig, aufzuhören, jemandem zu nützen, also wurde ich ein Parasit. Wenn die Leute nach Arbeit schreien, schreien sie eigentlich nur nach etwas Medizin gegen den blanken Schauer, den die Erkenntnis ihrer eigenen Nichtigkeit bereitet: eine grundsätzliche Verzichtbarkeit, im besten Fall eine Ersetzbarkeit, der man sich nicht bewusst werden muss und seinen Seelenfrieden in Gefahr bringt, wenn man ihr auf die Schliche kommen will. Indem wir uns in eine Funktion flüchten, verlieren wir den Großteil unseres Potentials: wir müssen ihn verlieren, um uns mit uns selbst nicht derart zu verstreiten wie sich die Menschheit mit sich verstritten hat, die sich seit der Existenz von Atombomben sogar ganz gründlich zerstreiten kann. Die Menschen fliehen vor ihren Möglichkeiten und auch ich bin mitgerissen von ihrem Strömen, ihrer grau-blinkenden Panik, ihrem lächerlichen Stolpern über Launen und Mutmaßungen: es gibt NIEMANDEN der mir verlässlich darüber Auskunft geben kann, was außerhalb meines Zimmers los ist, was möglich ist und ob es sich lohnt, das Mögliche zu tun.

Knarf hat mal gesagt: "Ich mag mich am liebsten, wenn ich cool bin, das heißt wenn ich auf schnippische Art und Weise von allem gelangweilt bin. Der sanfte, schweigsame Rüpel zielt mit einem Blumenrevolver auf den Hinterkopf eines Polizisten in der Straßenbahn. Wir sind auf dem Weg zum Monolithen. Alle schauen aufgeregt aus dem Fenster. Ich schau einer fetten Frau auf den Arsch und hab Lust, sie zu filetieren. Die Bahn hält an und die Leute steigen aus und laufen in den Wald. Ich werfe die Literatur nicht um! Sie hat sich vor mir auf den Rücken gelegt und will gekrault werden. Außerdem schreibe ich notwendigerweise in die Leere, wenn es niemanden Konkretes gibt, an den ich mich wende. Deshalb können diese Texte auch als Gebete bezeichnet werden, mit denen ich mich an mein Traumbewusstsein klammere.

Frei.

Wirklich frei bist du erst, wenn du nicht mehr Scheitern kannst. Bist du frei von Zielen, kümmert dich keine materielle Not, manifestierst du dich in undefinierbaren Zwischenzuständen, kannst du unabhängig vom Blick der Anderen um dich selbst kreisen in belangloser Freiheit, die du mit allen möglichen Substanzen aufladen musst. Lass dich niemals zwingen, an irgendetwas zu glauben. Lerne unsichtbar zu werden oder erfinde dir einen Endgegner, der dir schmeichelt.

Indem ich meine Nichtigkeit bezeuge, schaffe ich meine Persönlichkeit ab und mein Körper rückt zurück ins Zentrum und die Empfindlichkeit erhöht sich und bildet die Grundlage für neue Werte: die Abschaffung der Europäischen Depression, Kultivierung der Dissoziation, ausufernde Entschleunigungs-Orgien, ein herzlicher Veganismus, unbedingtes Grundeinkommen, Beseitigung des Autoverkehrs aus Innenstädten, psychedelische, multikulturelle Alltagskultur, intelligente Apps ersetzen Geldsysteme, weltweit freies Wohnen, weltweit freies Reisen, weltweit  freie Ernährung, weltweit freie Bildung, weltweit freie Gesundheitsfürsorge. Tun wir mal so, als würden die Leute sich in einem gemütlichen Leben entspannen wollen, tun wir mal so, als würden alle sich bloß deshalb wie Idioten an ihren Göttern und Ideologien festhalten, weil sie nicht wissen, was sie sonst mit ihren Problemen umgehen sollten, keine Chance bisher hatten, sich gehörig zu entspannen und das Leben zu genießen, vermutlich kann man nur dann Frieden mit sich und der Welt schließen. Deshalb ist es klug, gerade auch Streng-Religiösen, Streng-Nationalistischen, Streng-Konservativen, Gewaltbereiten, Desorientierten, Verschwörungs-Paranoikern und natürlich auch ausnahmslos allen Flüchtlingen ein bedingungsloses Grundeinkommen und eine liebevolle Sozialbetreuung zu gewähren. Es muss radikal darauf hingewirkt werden, dass sich alle Menschen entspannen können. Wir müssen unter allen Umständen aufhören mit allem! Und dafür sorgen, dass es wirklich alle gemütlich haben. Und dann müssen wir darüber reden, wie wir dafür sorgen, dass es weiter so gemütlich bleibt. Und dann können wir ganz von Neuem über Gott und Wahrheit und Sinn und Sterben reden.