Die Ronny-Psychose

geschrieben im Mai 2016, für eine Veranstaltung des EINEVISION kollektiv aus Erfurt
am Tag nach meiner ersten Meskalin-Erfahrung, am Tag vor dem großen Unwetter


Ich würde gern alle, die nicht wahrhaben wollen, dass Erfurt an manchen Stellen ein unappetitliches Dreckloch ist, mit meiner Paranoia runterziehen. Es gibt Leute die hier für immer verloren sind und die man auch bloß in Ruhe sterben lassen sollte, weil sie keiner mehr braucht, weil sie vielleicht nie jemand gebraucht hat: suchtkrank, missgünstig, depressiv machen sie diese an sich schöne Stadt kaputt, so wie einer meiner besten Freunde seine Wohnung kaputtwohnt, weil er sein Gehirn mit Alkohol kaputt gemacht hat. Es gibt wirklich eine Menge Elend in dieser Stadt und ich denke mir, man versteht die Stadt nicht, wenn man sich nur auf das Positive in ihr konzentriert, wenn man dem aus dem Weg geht, was deprimieren kann, was deprimieren will! Erfurt Nord will dich deprimieren, all die traurigen Schnapsleichen wollen dich deprimieren, die von der Kneipe nach Hause torkeln unter einem hässlichen, weißen Himmel, mit hässlichen, gelben Gesichtern, in denen man Hilflosigkeit, Todesangst und Langeweile zwischen zwei ekelhaften Rülpsern aufflammen sieht. Was ist meine Aufgabe als Schriftsteller? Etwas entgegensetzen, natürlich! So wie meine Mutter mich ihrer schlechten Beziehung mit meinem alkoholkranken Erzeuger entgegengesetzt hat. Etwas muss man doch tun! Vielleicht kann ich ihn überzeugen, mit dem Trinken aufzuhören, wenn wir ein Kind haben.

Nun, was setzen wir also Erfurt entgegen? Das ist die große Frage! Darum muss sich alles drehen. - Ich verbring bald eine Woche auf dem Land, in der Nähe von Leipzig und sortiere mich und reinige mich von Erfurt und trinke nur Kamillentee und esse nur Äpfel und frischgebacknes Brot und arbeite an meinem belletristischen Versuch, Erfurt loszuwerden. In meinem Buch verwende ich Erfurt frecherweise/berechtigterweise als Synonym für Depression, Langeweile, Lieblosigkeit, Desinteresse, Fettsucht, Zuckersucht, Fleischsucht und hoffe, dafür von Bodo Ramelow zu Kaffee und Kuchen eingeladen zu werden. Ich mag Bodo sehr, ich glaube an die Linke als Antidepressivum. Ich frage mich aber auch: warum wählen die Leute rechts? Wie kann es sein, dass selbst meine Eltern mittlerweile AfD zu wählen im Stande sind? Das ist die Hauptfrage, die mich umtreibt. Warum wollen die Menschen nicht voran? Warum sind sie so lieblos, so biestig, so desinteressiert? Der Abgrund, der sich mir da offenbart, scheint mir nicht nur der private Abgrund meiner Eltern zu sein. Die Depression meiner Eltern hat etwas mit der Depression in dieser Stadt zu tun. Scheinbar ist im Stadtbild von Erfurt etwas vorgeschrieben, was die Leute depressiv und kaputt und gleichgültig und dumm macht. Aber es ist ja nicht so, dass Erfurt das blutende Arschloch am sonst makellosen deutschen Volkskörper wäre. Städte wie Erfurt sind der Grund, warum die Sonntagsumfragen so aussehen wie sie leider nunmal aussehen und darauf wollte ich hinaus. Und ganz bescheiden ausgedrückt: auch in Erfurt kann man ein Gefühl dafür bekommen, was in Europa schief läuft. Wir sind so reich, wir haben so viel Potential, eine wirklich schöne, neue, gemütliche, entspannte, funktionierende, liebevolle, freie Gesellschaft zu schaffen, aber die Leute verstecken sich, halten sich zurück, bilden sich auf ihr kleinen Erfolge zu viel ein oder schämen sich zu sehr für kleine Misserfolge. Erfurt braucht eine lebendige, fröhliche, vernetzte Gegenkultur. "Das ist klar!", sagen viele, hoffen viele, ich bin einer von ihnen und ich bin echt glücklich, dass es Leute gibt die sich hier engagieren und sich nicht bloß den Kopf zukiffen und Vorträge über Neoliberalismus und Antisemitismus anschauen. Ich bin sehr froh und dankbar, dass nicht Alle Erfurt den Depressiven und Konservativen und Faschisten überlassen wollen und hoffe, dass ich irgendwie etwas beitragen kann oder irgendwann beitragen werde - und vielleicht kann ich erstmal nur die Hoffnung aussprechen, dass es Leute gibt, die etwas Schönes mit dieser Stadt anfangen können und dass es schön wäre, wenn sie sich auf ihre Gemeinsamkeiten konzentrieren könnten: das schwierigste ist vielleicht, bei guter Laune zu bleiben, sich nicht runterziehen zu lassen von dem, was runterziehen will, weil es runterziehen kann: die brutale, banale, unpoetische Hässlichkeit dieser Stadt. Die Frage ist: willst du sie ertragen oder willst du sie verändern? Je nachdem was du willst, musst du verschiedene Mittel verwenden. Was dir hilft, Erfurt zu ertragen, Alkohol zum Beispiel, ist vielleicht nicht geeignet, Erfurt zu verändern. - Leute, mit denen ich mal studiert habe, hocken in verwahrlosten WGs, reden dummen Scheiß von Marx und Moderne, vielleicht kluger Scheiß, okay, aber is halt Scheiß, wenn deine Wohnung kaputt und deine sozialen Kontakte kaputt und dein Magen kaputt und deine Lunge und deine Leber kaputt.

Ich komme schriftlich selbstbewusster rüber als mündlich, deshalb schreib ich so gern. Es ist unmöglich, wirklich zu zweifeln, wenn man noch Worte hat die irgendwie Sinn ergeben. Alles was ich geschrieben habe, ist das Solideste an mir. Sobald ich aufhöre, verschwinde ich im Nichts: denn ich bin nicht mein Gesicht, nicht meine Stimme, nicht meine Kleidung, nicht meine Herkunft, nicht meine Zukunft, ich bin nicht der, der all das wahrnimmt, sondern ich bin das, was ich wahrnehme und nichts anderes. Jeder Autor kann nur über das Schreiben, was er vor sich hat und ich bin nicht der Finger der die Tastatur betippt, ich bin nicht mein Computer oder das Internet, ich bin nicht die Ohren die meine Stimme hören, ich bin nicht der Kehlkopf der sie erzeugt, ich bin nicht das Herz das schlägt, nicht die Haut die schwitzt, nicht die Äpfel im Mund, von denen ich mich seit Tagen ausschließlich ernähre. Angeekelt von Erfurt habe ich oft das Bedürfnis, den ganzen Tag frische Äpfel zu essen und mit meinen Freunden singend, plaudernd, schweigend, schmusend im Wald zu verbringen, bloß weg vom kalten, lieblosen, einfältigen Schlund, der uns fressen will: nicht weil er Hunger hat, nicht weil wir ihm schmecken, sondern einzig deshalb weil er fressen kann. Ich bin der der nicht gefressen werden will. Ich bin der der meine Freunde liebt. Ich bin der der nicht in Erfurt sterben will, ich bin der der sich nicht selbst inszenieren will, ich bin der der überfordert ist, ich bin der der schwankt und schwanken will, aber mit guten Leuten in einer guten Umgebung. Ich bin der der wahrnimmt, dass ich bewertet werde, ich bin der der nicht weiß, was die Leute ernst meinen und was nicht, ich bin der der nicht wie ein weiser, kluger, selbstgefälliger Schriftsteller rüberkommen will.

Ihr könnt mir vertrauen, ich habe es verstanden, ich bin der Baum, unter dem ihr euch ausruhen könnt, ich habe die richtigen Ansichten, ich bin auf dem richtigen Weg: wäre ich auf dem falschen Weg, könnte ich nicht diese Sätze schreiben, ich weiß, was wahr ist, weil ich weiß, was falsch ist. Ich habe noch nie jemanden im Stich gelassen, ich komme immer bestens klar mit meinen Drogenerfahrungen, weil ich ein alternativer Künstler bin. Ich bin nicht wie Ronny, der unter mir wohnt, denn ich heiße nicht so. Ich muss mich nicht beweisen, denn ich bin großartig, wie ich bin, seht ihr es nicht? Ich habe einen Künstlernamen und höre gern seltsame Musik, ich kann mich auf mich verlassen. Es sind immer die Anderen Schuld. Meine Eltern zum Beispiel. Zwei dicke, alkoholkranke, gelangweilte Ronnys, die mich auf Schritt und Tritt beobachten, denen ich alles schuldig bin. Hey bleib mir weg, fass mich nicht an, Mutti! Du stinkst nach Papi und Papi stinkt wie du und ihr beide stinkt wie diese Stadt und ich stinke wie diese Stadt, aber ihr wart zuerst da, ich schulde Euch einen Scheiß, ich bin das Opfer, ihr seid die Täter. Ich bin der einzige in ganz Erfurt, der nicht nach Erfurt riecht, ich bin der einzige, der nicht manisch-depressiv ist. Ihr könnt mir alle vertrauen, ich bin euer bester Freund, denn ich habe die tollsten Freunde, ich esse gern Äpfel und Spanferkel, ich finde wir sollten jeden Tag ein Ferkel seiner Familie entreißen und schlachten und mit unseren Lieblingsronnys ein Grillfest geben und das Ferkel fressen, wir sollten richtig viel Alkohol hinterherspülen und im Hintergrund ein Video in Dauerschleife: wie so ein Ronny ein Ferkel aus dem Stall nimmt und erstmal kastriert, habt ihr das Quiecken gehört? So klingen Schweinchen, die man kastriert, aber ich möchte Euch nicht runterziehen, unterlegen wir das Video doch mit einer progressiv und alternativ angehauchten Demo, die Ronny mit seiner Band SILVERMETAL im Keller von Heiko aufgenommen hat. Ronny möchte nicht kastriert werden, ich möchte nicht kastriert werden, wer möchte kastriert werden? Ich stelle mir das Ronny-Gesicht meiner Mutter vor, wenn sie in ein leckeres Steak beißt, ich stell mir das Ronny-Gesicht meines Vaters vor, der meinen Ekel spürt und nicht glauben kann, was ich mir mit meinem Ronny-Gesicht erlaube: "Schau nicht so aufgesetzt weltverbesserisch! Du hast uns nicht zu sagen, was wir essen sollen, wo kommen wir denn da noch hin? Dass wir uns Gedanken machen was wir essen? Da können wir ja irgendwann gar nichts mehr essen." und meine Ronny-Mutter hat gerade ihr Stück Ferkelchen runtergeschluckt und nickt demütig und ich ziehe meinen Schwanz ein und entschuldige mich für mein Gesicht, indem auch ich mir ein Stück Ferkel gönne. Ich trinke gern reichlich Schnaps hinterher, denn Schnaps ist was für junge Leute, die mal etwas erleben wollen, wir haben ja sonst nichts, wir müssen uns halt mit dem zufrieden geben was wir haben. Alkohol immer rein, nicht sparen! Immer zuhauen, bis nix mehr geht. Ist ja alles scheiß egal, wirklich was machen können wir eh nicht, wir können nur blöde Reden schwingen oder uns wie übergeschnappte Vögel ein bisschen daneben benehmen, einfach mal die Sau raus lassen. Immer rin in die Bude, bringt so viel wie möglich Leute zum Saufen mit! Irgendwelcher billiger Fusel, Hauptsache es hat ordentliche Umdrehungen! Scheiße, vielleicht kriegen wir Ärger mit den Bullen, weil wir bei Rot über die Kreuzung stolpern oder ne Schwuchtel verhauen. Sowas muss man mal machen, wenn man jung ist. Erfurt ist die richtige Stadt, um uns tagelang wochenlang zuzuknallen. Der Ronny hat letztens auch mal Gras mitgebracht, das macht so ganz duselig Alter, das knallt dann noch ordentlich mehr. Scheiße -sind- wir- geil!--- Ich liebe euch, also nicht auf so ne Schwulenart, eher so kumpelmäßig. Ich geh gern mit euch was saufen, is immer was los mit den Chaoten. Ey Ronny fick mich nicht an wegen den 5 Euro! Hab dir schon gesagt dass der Ronny mir noch 10 Euro schuldet, der Arsch muss grad Inkasso-Nachzahlung! Also nerv nich! Außerdem sitzt du immer hier bei uns und säufst unseren Schnaps, aber selbst bringst du nämlich nie was mit! Ich hab heut nichts mitgebracht, weil ich den Ronny noch was schulde, und das hab ich dir schon tausendmal gesagt, du Scheißkopf!! Erfurt wird von lauter Ronnys bewohnt, zerwohnt. Alkoholkrankes Vieh, ohne Haltung, ohne Horizont: fressen und saufen und scheißen und ficken und kotzen und träumen von Scheren und Stachelschweinen und erinnern sich an schöne Zeiten und pissen sich in die Hose und weigern sich den Abwasch zu machen und den Müll runterzubringen. Vielleicht wohnt auch ein Ronny nebenan bei dir? Näher als dir vielleicht lieb ist. Schau mal in den Spiegel und frag dich, was passieren muss, bevor du ein Ronny wirst. Schau dir selbst in die Augen und sieh den, der all die Ronnys und Ronnys und Ronnys gesehen hat, die beschämt oder gelangweilt oder strotzend vor ACDC-Selbstbewusstsein an mir vorbeigehen. Das gefährliche an einem Ronny ist: er sieht immer anders aus. Manchmal bringt er den Abfall auch brav nach unten in die richtige Tonne, manchmal verträgt er keinen Alkohol, manchmal hört er auch Musik von diesem Rio Reiser. Junimond ist echt ein schönes Lied. Bei bei Junimond. Das war noch einer von uns. N richtiger Mann! Kein verweichlichter, grünlinksversiffter Homo-Fürst! Hast du schon gehört? Die Transen in Amerika wollen ein eigenes Scheißhaus haben! Die müsste man alle an die Wand stellen! Aber das darf man ja nicht so laut sagen, sonst ist man gleich ein Nazi. Es gibt solche Leute, ich kenne noch schlimmere, und es gibt noch schlimmere die ich hoffentlich niemals kennenlerne, aber der schlimmste Ronny den ich kenne, das ist der, von dem ich besessen bin, der erste, der älteste und stärkste Ronny aller Zeiten: mein Daddy, dem niemand mehr helfen kann, dem niemand mehr helfen will, der sich seit 25 Jahren in Erfurt jeden Abend reichlich Alkohol und Spanferkel gönnt, der den selben Herzfehler hat wie ich, der wie ich so abartig lispelt und einmal, als wir uns übelst zerstritten haben wegen irgendeiner dummen Kleinigkeit, bin ich mit meinem mp3-Player aus dem Haus geflüchtet und hab mir n Bob Dylan Album angehört, während ich im Viertel herumgeirrt bin und alle Ronnys der Welt von oben bis unten verflucht habe und Bob Dylan war ganz auf meiner Seite; und als ich nach Hause gekommen bin, hörte ich das selbe Album von Vinyl aus dem Zimmer meines Vaters. Ich war entsetzt und gerührt zugleich und setzte mich in den Flur um zu verstehen, was das - aber er hat mich kommen gehört und ich höre, wie er von seinem quietschenden Stuhl aufsteht und seinen klobigen, zuckerkranken Körper zur Tür bewegt: er öffnet sie, ich sehe sein altes Gesicht, ich weiß nicht ob er geheult hat oder einfach noch wütend ist, aber bevor ich irgendwas wie "Hier ähm, wegen vorhin..." sagen konnte, sagte er mit ruhiger, winterlicher Stimme: "Du fährst dieses Jahr nirgendwo hin! Es setzt keiner deiner Freunde einen Fuß in dieses Haus! Du besorgst dir gefälligst eine Ausbildungsstelle wie dein Bruder! Und Internet gibt es auch nicht mehr! Du setzt sich auf deinen Arsch und bekommst einen ordentlichen Job! Es gibt genügend Lehrstellen, streng dich an! Wir hatten es auch nicht leicht." Dann hat er die Tür zugemacht, ist zu seinem quietschenden Stuhl gehinkt und hat die vierte Seite von Blonde on Blonde aufgelegt, darauf gibt es nur das 11minütige "Sad Eyed Lady of the Lowlands". Das war auch das letzte Lied, was ich auf meinem Spaziergang eben gehört habe. Meine Mutter würde sagen: "Na und?" - ich sehe ihren unsicheren Blick, ihre Hoffnung, dass ich ihr erkläre, was an dieser Lappalie so erzählenswert ist, außerdem gehört es sich einfach nicht, sowas Privates vor Wildfremden zu erzählen, ist das ein Hilferuf? Oder ist das Kunst? Aber zu erst, und damit fängt es an: warum hast du dich nicht gekämmt? Haben wir dir denn gar nichts beigebracht? - Huch? Bin ich jetzt die Pointe in deinem Text? Das ist mir aber gar nicht Recht. Was willst du denn hören? “Geh deinen Weg?” Jetzt lass mich in Frieden. - Ok, Mama, ich lass dich in Frieden. Ich verspreche mir, dass das alles noch Sinn ergeben wird und Euch verspreche ich, das war der erste und letzte Text, indem ich jemals über meine Eltern geschrieben habe. Hab ich eigentlich schon gesagt dass ich gar keine Eltern habe? Der Fluß der durch Erfurt fließt heißt Heiko und schaut kleinen Kindern aufn Arsch. Hab ich euch schon von meiner Heiko-Psychose erzählt?