Geburt ist Fleisch

"Deutschland, du mieses Stück Scheiße" (Björn Höcke)


(1)
"Glücklicherweise gibt es mich ja gar nicht!", ist der letzte Trost, den man sich heute noch spenden kann. Ich will mir diesen Trost vertiefen. Mein Freiwerden von Personalidentität wird all meine physischen und mentalen Eigenschaften entkoppeln von einem imaginären Zentrum, von einem festen, verantwortlichen, verlässlichen Ich. In diesem Zustand der Dissoziation befindet man sich jenseits der Gerichtbarkeit, abgetrennt vom bisherigen Schicksal, außerhalb der eigenen Geschichte: man betrachtet das Leben nun von außen, im paranoiden Zustand zwischen Objektivität und Subjektivität: es gibt keine Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt, alles ist nunmehr eine ganze Welt, es gibt kein selektierendes Ego, keine Verhaltensmuster mehr, nur Impulse, die mehr oder weniger stark sind und demnach mehr oder weniger im Recht sind. Keine Instanz als den eigenen Körper akzeptieren könnend, erhöht der Dissoziierte die Intelligenz seiner Biologie. Das Ich stand immer im Weg, es kreuzigt den Körper, wie die Depression die Manie, kann aber abgeschafft werden, so wie Kunst die Notwendigkeit von Sicherheit und Wahrheit abschaffen kann. Das Ich lebt von der Illusion seiner Wesentlichkeit, die alles verzerrt und verspannt. Das Ich zertunnelblickt. Das Ich ist eine Psychose, die von der Großen Maschine gemolken wird. Erst wenn man keine Milch mehr gibt, kann man sich zu dem Gedanken aufraffen, dass man weder Kuh, noch Mensch, noch Ich ist: sondern schlichtweg ein von Erinnerung und Hoffnung verzogener Affe, der gelernt hat, sich im Paradies zu langweilen und es folgerichtig dem Erdboden gleichgemacht hat und so wunderlich stolz darauf ist, all die Demütigungen auszuhalten, die er, um seine anstrengende Sehnsucht nach einem besseren Leben loszuwerden, sich selbst verordnet hat.

(2)
Eine Stadt wie ein Krater voll Knochen und Salz und ein paar abgemergelte Meth-Leichen verkriechen sich bis zur Dämmerung in den Wänden ihrer von Insomnie und Selbstverachtung aufgeweichten Höhlen. Der Himmel leuchtet grau wie der Bürgersteig, auf dem Gehetzte und Ängstliche und Hoffnungslose ihre grellen Gesichter zur Schau tragen müssen, direkt an meinem Fenster vorbei. In meinen Hosentaschen steckt noch ein bisschen Kleingeld, ich glaub ich geh gleich ins Edeka und hol mir einen Tee, aber erstmal den Gestank von meinem Körper befreien und mein Gesicht entheddern, damit die Kassiererin weiter in ihrer Fassung leuchten kann. Ich wünschte, ich könnte all meine Sorgen von meinem Körper kratzen und im Klo runterspülen. Jeder muss ab und an unter seinem Bett aufräumen oder sich zumindest einen Überblick verschaffen über all den Kram, der sich die letzte Zeit so angesammelt hat. Ich erinnere mich an meinen Großvater, der sagte immer, dass es nicht schlimm ist, wenn man nicht weiß, wo etwas hingehört, wo man hingehört, "Hauptsache, du hast immer einen gemütlichen Schlafplatz" und die Sonne scheint und ich bin so müde. Ich weiß nicht wie lang ich geschlafen habe. Hab ich überhaupt richtig geschlafen? Was ist letzte Nacht passiert? Ich habe Angst den Nachbarn zu begegnen ... mit ihren Augen und ihren Ohren. Ich will mit Michael telefonieren, aber er geht nicht ran und ich versuche unbeeindruckt davon in meine Lederjacke zu steigen. Das Psychic-TV-Logo auf dem Rücken hat etwas mit mir gemacht und ich öffne die viel zu dünne, viel zu offensichtliche Tür und befördere meinen schwerfälligen Körper durch den dicken, stickigen, grau-leuchtenden Tag, den ich in ein paar Minuten mit mittelmäßigem Bier blinkend für beendet erklären werde.

(3a)
Ich bin besoffen von Ernst, beleuchtet von einer roten Glühbirne und dem matten Grau des Laptop-Monitors, erregt von weichen, pyromanischen Phantasien in meinem engen, lieblosen Zimmer, das Lachen aus dem Hinterhof ist stumpfsinnig und unecht, ich glaube es ist unmöglich, echte Freundschaften zu schließen und hätte nach dem 1p-LSD-Vorfall eine Cannabis-Pause machen sollen, die Überempfindlichkeit schnürt mir den Oberkörper zu, es riecht nach süßem, minznen Sativa, ich weiß nicht ob ich Lust habe, Ronnsen, dieses rücksichtslose, katatone Arschloch von Vermieter zu töten. Ich schaute heute nachmittag erst in den trüben Sommerhimmel und stellte mir vor, was das für ein Gott sein muss, der meine Liebe nötig hat, kann er mich nicht in Ruhe lassen? Ich möchte an nichts mehr glauben und wie eine freundliche Trauerweide über dem Schulhof hängen und in der Zwangsjacke der Überdosis knicke ich über das Ende eines grellen Tages, knaubelnd an Fingernägeln, bestrahlt von 90er-Jahre-TV-Werbung, die Leute netterweise auf Youtube hochgeladen haben. Ich bin auf der Suche nach Struktur für dieses Buch, wenn ich rotäugig vor Schlaflosigkeit durch enge, verschwitzte Straßenbahnen steige, stinkend nach Kompost und Hartz 4, ich glaub ich wittere Kontrolleure, ich muss unbedingt raus hier! Ich genieße meine Paranoia, sie lässt mich auf alles eine Antwort finden. Alte Menschen schauen mich mit ernsten, von Langeweile und Todesangst versteinerten Gesichtern an, wahrscheinlich wollen sie mich auffordern, stramm zu stehen und zu leiden wie sie damals. Es müsste ein Zauberprinz kommen und sagen: "Du bist eine Ware, aber nur solang du eine Person bist. Wenn du deine Persönlichkeit abschaffst, hat das System keine Kontrolle mehr über dich." - Stell dir vor, es regnet und du hast einen Schirm bei dir. Stell dir vor, du sitzt den ganzen Tag mit deinen Freunden im Wald, um darüber zu reden, wie man die Persönlichkeit abschaffen kann: wir reden nicht mehr über das Vergangene, denn mit ihm, in ihm sind wir Personen, und so verhält es sich mit der Zukunft und wir müssen auch nicht über das reden, was gegenwärtig um uns ist, denn wir nehmen alle das gleiche wahr. Wir reden über nichts, was uns zu einer Persönlichkeit machen würde. Wir müssen fortan vielleicht gar nichts mehr sagen und nur noch schweigend und ohne Probleme und ohne Fragen vor uns hinleben: Psychedelika sind nun Werkzeuge, den Moment zu vertiefen, die Ichauflösung zu veredeln, das Zentrum endgültig aufzugeben. Ich ekel mich vor dem Ich, zu dem mich die Nüchternheit zwingt. Es ist analytisch, rachsüchtig, verbrecherisch, und es will ganz zweifellos Ronnsen, diese faschistische Ratte, umbringen. Werde ich einmal jemanden töten? Wieviel Leben werde ich beenden? Ich hoffe, ich werde nichtmal meins beenden. Ja, das hoffe ich wirklich. Ich möchte mein Leben nicht beenden. Und ich möchte Klassensprecher von Europa werden. Und ich möchte mit dem Junge der unter mir wohnt schmusen. Und ich möchte weitere Auftritte als Alleinunterhalter. Und ich brauche mehr Geld für Cannabis und 1p-LSD. Paranoia ist eine Strategie. Ich schäme mich nicht mehr, weil es mich nicht mehr gibt. Ich leuchte.



(3b)
Wenn man sagt: "Da stirbt etwas in mir, wenn...", meint man damit: "Es macht mich ein Stück depressiver, wenn..." Zum Beispiel wenn mir in der Stadt ausgewachsene, stolze Muttertiere begegnen, die sich als "Mamis" bezeichnen und sich auf Facebook Bilder von süßen Babys und Witze über "Kerle" und frohe Botschaften wie "Umarme den Tag mit einem Lächeln" zuposten und sich so gern auf Malle von Mickie Krause schwarz-weiss-rot ficken lassen würden. Hier in Erfurt brauchen wir keine weiblichen Vorbilder, hier ist Hartz IV unsere kaltherzige Übermutter, die man über uns installiert hat, um zu verhindern, dass wir depressiv vom Nichtstun werden. "Geh mal schön arbeiten und verdien' dir das Geld, das du versaufen willst!", so geifert sie uns mit ihrer mittelmäßigen Liebe voll, wie es schon unsere besorgten Eltern und tüchtigen Lehrer und gewissenhaften Freunde getan haben, deren Mitleid und Besorgnis uns treffen und versenken sollen.

Frauen sind heilig, Frauen sind schön, Frauen sind die Rettung. Sowas kann man über alles sagen: die Nacht ist heilig, der Mond ist schön, die Erektion eines 16-jährigen Mondlicht-Jungen ist die Rettung. Wenn man sich nicht danach fühlt, einer Frau seinen Schwanz in die Fotze zu halten und sich segnen zu lassen von ihr, erscheinen Frauen als stinkende, gierige, verlogene Huren und Männer als stinkende, gierige, dumme Trampel. Mir wird immer übel, wenn ich sehe, wie arrogant sich die Geschlechter gegenüber aufführen, am schlimmsten sind Eltern, die in Schwangerschaft etwas Heiliges sehen, etwas das Ehrfurcht gebietet. Sex hat mehr mit Metzgerei als mit Liebe zu tun. Der Geschlechtstrieb ist die hartnäckigste Metaphysik, die seit Jahrtausenden verhindert, dass Menschen wirklich zueinander finden.

(4)
Es ist unglaublich, wir sind Nachfahren derer, die von Hitler regiert wurden. Wir wurden geprägt von Menschen, die vom Dritten Reich geprägt wurden. Deutschland hat nach dem Krieg so getan, als ob nichts gewesen wäre, es flüchtete nach vorn, in die bürgerliche Mittelmäßigkeit und wurde dadurch das wirtschaftlich stärkste Land Europas. Ich erinnere mich, das meine Oma mit Ehrfurcht davon erzählt hat, wie sie Hitler ein Geldstück in eine Büchse geworfen hat. Ich erinnere mich an meinen Opa, der immer ganz feuchte Augen bekam, wenn er vom Krieg erzählte. Ich erinnere mich an meine Eltern, die sich für nichts mehr interessieren. Ich erinnere mich an Leute in meinem Alter, die mit nichts etwas zu tun haben wollen, weder mit Schuldgefühlen noch Überzeugungen, solang die Arbeit okay ist.

Wir sind die Nachfahren derer, die Hitler groß gemacht haben. In unseren Genen steckt das Bedürfnis, anzubeten, das Bedürfnis, Grausamkeiten auszuhalten. Das dritte Reich ist eine zentrale, psychotische Episode in unserer Geschichte. Ab und an legen wir Kränze nieder, ab und an gruseln wir uns, wenn wir "Schindlers Liste" sehen, ab und an distanzieren wir uns, wenn Flüchtlingsheime brennen oder eine rechte Terrorzelle Menschen tötet. Wir verstehen nicht, dass wir Nazi-Gene haben, ob wir wollen oder nicht. Wir sind direkte Nachfahren derer, mit denen ein industrieller Massenmord zu machen war.

Mein Glück als Deutscher ist, dass es mir leicht fällt, nicht patriotisch zu sein. Wir sind noch lange nicht mit dem fertig, was hier vor weniger als hundert Jahren passiert ist. Fast jeder steckte damals mit drin, ob als Funktionär, als Unterschreiber, als Dulder, als Weggucker, als Opfer oder als Glückspilz. Eine Diktatur bleibt noch Jahrzehnte nach ihrem Untergang in den Knochen eines Volkes. Ich wurde von einer Mutter erzogen, deren Mutter im Dritten Reich erzogen wurde. Wir sind das, was Hitler ermöglicht hat, nicht losgeworden, weil wir immer noch nicht genau wissen, wie das alles passieren konnte. Wir wissen, was passiert ist, aber nicht wie. Das ist der Schatten, den wir als Volk mit uns herumtragen und in den letzten Jahren wird er wieder größer.

(5a)

Indem ich mich hiermit zum Bürgermeister von Europa erkläre, schaffe ich meine Heimatstadt Erfurt ab und damit eine wesentliche Keimzelle der Deutschen Depression, die ganz Europa in die Knie zwängt. Als wirtschaftlich stärkstes Land der EU drückt Deutschland nicht nur den Kapitalismus, sondern auch die von ihm verursachten psychologischen Schäden seinen Bündnispartnern auf. Als reizbare, aber fromme, grobe, aber demütige Schäfchen nehmen die Erfurter den Schaukampf mit dem unsichtbaren Monster auf, das sie selbst erzeugt haben, das sie selbst sind; ein Kampf der aussichtlos ist, wenn man nicht bereit ist, den Respekt vor Grenzen zu verlieren, die man sich nicht selbst gesetzt hat. Ich bin fast vollständig dissoziiert, das heißt: es gibt kein Ichgefühl, das heißt: die Illusion eines Zentrums, die Illusion von Verantwortung, die Illusion einer Kontinuität des Charakters kann nicht mehr aufrechterhalten werden, das heißt: die Welt wird nicht mehr durch den Ego-Tunnel verzerrt wahrgenommen, alles wird zur Außenwelt, ich denke an mein Gehirn und an den, der daran denkt, alles ist Außenwelt. "Es gibt dich nicht", ist die frohe Botschaft, die ich allen Depressiven und Geknechteten und Ängstlichen in leuchtenden Buchstaben auf ihre Stirn schreiben möchte. Meine Abwesenheit macht mich so glücklich, dass ich an Europa glauben kann als multikulturelle, pluralistische, radikal menschenrechtliche, aufgeklärte, humanistische, digitale, gemütliche, weltoffene, liebevolle Institution gegen Barbarei, Fanatismus, Unwissen, Tyrannei, Aberglaube, Arbeitswahn, Hunger, Durst, Elend und Tod für alle Menschen auf dem Planeten. Europa soll der Ort sein, an dem die Menschheit zum ersten Mal zur Ruhe kommt und gemeinsam verschnauft und sich gründlich von oben bis unten selbst erfährt: eine Zeit des Festes, eine Zeit der Experimente, eine Zeit der persönlichen Abenteuer, eine Zeit des Müßiggangs und des leichten Sinnes. Der beste Widersacher, auf den diese Vision treffen kann, ist ein wohlstandsverwahrloster, depressiver, arbeitsloser, gefruster, ungebildeter, desinteressierter, fettlaibiger, alkoholkranker Mann. Er bestimmt das Stadtbild vieler ostdeutscher Städte, mit ihm ist weder Kapitalismus noch Sozialismus zu machen und alle Jahre wieder haben die Faschisten versucht an seine Wählerstimme zu kommen und derzeit sieht es gut aus, dass es mal wieder klappen könnte. Glücklicherweise haben wir in diesem stürmischen, trüben Sommer 2016 das Institut für Dissoziation gegründet. Für mich ist Dissoziation eine Möglichkeit gewesen, Erfurt aus meinem System zu bekommen und mich für Europa zu öffnen. Erst als ich mich als Person abgeschafft habe, gewann ich ein Gefühl dafür, was es heißt, Teil einer einzigen Menschheit zu sein. Eine depressive Stadt macht irgendwann alle Menschen in ihr faul, missgünstig, feige und dumm. Die Menschen müssen sich depersonalisieren, mittels Kunst, Wissenschaft und Mediation ihr Ego abschaffen, erst dann werden sie ihre Depressionen los und Europa kann aufatmen.


(6)
Petra wollte mir dann einen Wein runterbringen und wahrscheinlich über ihren Selbstmordversuch von letzter Woche reden. Ich höre es mir gern an, aber ich hoffe, sie erwartet nicht allzu viel Pietät von mir, was nicht heißen soll, dass ich so sonderlich cool wäre: ich kenne mich mit dem Tod einfach überhaupt nicht aus. Ich stelle mir vor, wie ich sie in der Badewanne mit aufgeschlitzten Pulsadern finde und sie sagt: "Lass mich bitte sterben.", während sie ansetzt, um sich einen weiteren Schnitt zu verpassen, ganz auf meinen Gesichtsausdruck konzentriert. "Sag mir einen Grund, auf dieser beschissenen Welt zu bleiben!" und ich bin nicht froh, dass sie genau auf mein Gesicht aufpasst. Im grünen Neonlicht des Badezimmers grinst ihres teuflisch, so spontan würden mir da jetzt gar keine Gründe einfallen, Petra. Herrje, wenn es drauf ankommen würde, hätte ich keine Argumente parat, die sie vom Selbstmord abhalten könnten. Ich bin irgendwie froh, dass mich meine Unsicherheit verwirrt - ich versteife mich grinsend wie ein dummes Engelchen in die Behauptung, dass Verwirrung die einzige Peinlichkeit ist, die nicht peinlich ist. Ok, nichts Unüberlegtes tun: will sie wirklich sterben? Werde ich ihren Tod verkraften? Was ist wahrscheinlicher? Wer ist das in mir, der da ein Urteil sprechen will? Wer möchte ich sein? 

(7)
Heiterkeit, Gemütlichkeit, Selbstentfremdung: um jeden Preis müssen diese Werte verteidigt werden von allen Leuten, deren geistiges und körperliches Heil und deren Aktivität und Kreativität davon abhängen. Drogen, solidarische Netzwerke, Reisen, Besessenheit, Aggressivität und Größenwahn sind einige Möglichkeiten, diese Werte zu leben und zu verteidigen. Sprache hilft nur, wenn man sie nicht zurückhalten kann, sie ist niemals Ausdruck echter Entspannung und Heiterkeit. Ich gehöre jedenfalls nicht zu denen, die sich beim Küssen an einen Vorschlaghammer festhalten und eine schiefe, freundliche, schwarze Violine verbiegt die Unendlichkeit meiner Zimmerecken, ich hoffe meine Mitbewohner werden davon nicht gestört, während ich mir denke, dass ich alles nur ertragen kann, wenn ich es mild belächeln kann. Kann ich meinem Körper vertrauen? Was hat meine Euphorie mit der Wahrheit zu tun? Kuscheln sie miteinander? Sind sie entsetzt? Oder gelangweilt? Ich beantworte die Fragen mit meinem Versuch, alle Gattungen und Medien und Berufe so großmaulig und reißerisch wie möglich zu verschmelzen. Europa, glückselige Insel eines heiteren, klaren, vitalen, stabilen Humanismus; Kunst und Wissenschaft und Philosophie gebündelt zu einer dynamischen Leitplanke. Der Europäische Puls. Verdichtung. Entspannung. Der Rausch der Langsamkeit, ein Fest der Genauigkeit. Ich sehe mein Selbstgefühl sich auflösen in meinem Zwang, die Melodie jedes Satzes zu finden. Hurra!

(8)
Alles miteinander verbinden. Alles was nicht dringend ist, soll wuchern oder zerfallen: diese Maxime rettet mich durch Schreibblockaden, die notwendige Folge des Erfurter Stadtbildes zu sein scheinen und der Paranoide spürt nicht nur seine Unsicherheit, sondern auch die der Anderen. Wir haben alle keine Freunde mehr: was bleibt uns also übrig, als den ganzen Tag richtig gute Musik richtig laut zu hören, bis sich unser Selbstgefühl mit der Musik verwechselt. Ich habe Lust, alle Mittel zu verwenden, die ich habe, um Erfurt abzuschaffen. "Bewusstseinserweiternde Substanzen sind Neuland für Deutschland.", erklärt die Kanzlerin. Freu dich am besten überhaupt nicht mehr! Wir brauchen eine Software, die das weltweite Kunstgeschehen strukturiert und einen Kunstmarkt überflüssig macht. Ich schließe meine Augen, um den einzigen Raum zu erforschen, der mir zusteht. Sensibilität fängt erst an, interessant zu werden, wenn sie sich gegen jene Sinnesorgane richtet, auf denen sie beruht. Wir haben alle keine Freunde mehr, dafür brennt im Internet immer ein Licht, um das wir kreisen können. Ein Computer hat keine Angst vor dem Tod, deshalb brauchen wir auch keine zu haben. Ein Computer glaubt nicht an Wahrheit, er führt einfach nur Programme aus: genau so sollten wir es auch machen. Der nüchterne Körper ist nur die Hardware, das Ich ist nur der Desktop, Sprache ist nur ein Virus, Drogen sind nur Treiber, Moral ist nur Malware, Skeptizismus ist nur ein Ad-Blocker: auf was willst du dich verlassen? Wir können immer nur mit uns selbst reden, deshalb werden wir niemals echte Freunde haben. Ich unterstelle jedem, die Welt wie ich wahrzunehmen und glaube deshalb, dass Manche die falschen Konsequenzen ziehen aus dem, was sie wissen; ich vergesse immer wieder, dass es keine Objektivität geben kann, solang irgendwer noch in seiner Subjektivität eingesperrt ist. Ich nehme mir das Recht, im Zentrum zu sein und ihr dürft alle durch mich hindurchgehen. Die Qualität meines Bewusstseins hängt am Rauch glühender Disteln. Alles was du fröhlich aussprichst, bringt dich weiter nach oben: ins Licht.


(9)
Im Jetzt zusammensacken wiedas weiche, schwarze Zelt der Nacht in einen Brunnen gesaugt wird, sabbernde Kettensägefresse zwischen dampfenden Baustellen und schwitzenden Ampeln. Es rolltsichjemand über die Strasse, if you have common problems you need uncommon friends. Meine Dunkelheit ist ein Rost, der sich durch die Ausgeglichenheit der Stadt schleift. Menschen atmen. Die Haare der Menschen wachsen. Die Sonne scheint. Es ist erstmal ein Skandal, dassman gezwungen ist, etwasvon sich zu halten. Wenn man mitdem Flixbus in Bad-Them-Württenberg feststeckt wie eine dumme Schnecke und dissoziiert, lernt manFreunde zu hassen und Feinde zu lieben. Ich stecke alles inden Schrank. Die Wellen der Stadtbrausen vollvon Augen und Wegen aneinander vorbei und ich flatterewieein dunkler violettner Schmetterling bei rot über die Ampel, unsicher ob Glaswände nichtdas Lächeln einer Stadtentfachen. Every season has an end. Du kannst einfach den Schraubenschlüssel loslassen.

Wollen Sie mich retten, Herr Schlendrian? Ich wohne schon seit mehreren Monaten verteilt in drei verschiedenen WGs und gebe allen immer ein bisschen Geld. Die Wohnung am Amselberg hab ich nie wirklich ernst genommen. Ich hasse meinen depressiven Mitbewohner, ich fühle mich sehr unwohl und bin daher kaum da. Vielleicht können wir es mit dem Herrn Schickimicki so drehen, dass ich gar nicht offiziell eingezogen bin? Schauen Sie sich mal die Wohnung an: ein einziges Dreckloch. Seit Franks Freundin fort ist, bricht hier alles zusammen. Wollen wir uns mal treffen? Liebe Grüße!

(10)
Ich hab Lust, mein Leben kaputt zu machen, damit die Götter etwas zu Lachen haben, damit die Ikonen hinter meiner Stirn verblassen, aber ich möchte das Selbstmitleid des Selbstmörders überspringen und mein Ich gründlich abschaffen und damit auch den, der böse ist und den, der an den Konsequenzen leidet: oder willst du dich ernsthaft mit Bürokraten und Anwälten und Ärzten darüber streiten, wohin es mit dir gehen soll? Sie werden immer das letzte Wort haben und über dich verfügen so gut sie können: aber sie haben dich nur in Griff, wenn du eine Person bist und sie finden es selbstverständlich, dass man ein festes Ich hat, dass man nicht einfach jemand anders sein kann. Das Recht, die Vergangenheit von sich abzuschneiden und die Gegenwart neu zu ordnen und damit die Zukunft neu einzustellen, sollte sich jeder nehmen, der nichts mehr mit sich anfangen kann, der Nüchternheit als Gefängnis empfindet und der angeödet von sich und seinem Umfeld von einem Fettnäpfchen ins andere stolpert, nur um zu sehen, dass die Welt ein großer, unübersichtlicher Ort voller Schönheiten und Gefahren ist, ein Klischee, das sich Gott am siebten Tag ausgedacht hat. Du erinnerst dich plötzlich, dass du heute davon geträumt hast, deinem Stiefvater mit einem Schlagring das Gesicht kaputtzuschlagen. Wenn du dich wirklich gründlich abgeschafft hast, gibt es niemanden mehr, auf den sie zeigen können, schließlich wirst du auch denjenigen abgeschafft haben, der sich abschaffen wollte: du bist vollkommen verschwunden und entdeckst, dass es dich nie gegeben hat: du bist bloß der Einzige in deiner Perspektive, der Einzige in deinem Körper, ausgeliefert dem Körper, ausgeliefert den Ideen, ausgeliefert der Erinnerung und der Erwartung. Ich fühl mich nicht mehr gezwungen, ich zu bleiben, ich möchte mit dem, was ich bisher erlebt habe, eine Weile allein sein und nachdenken und so langsam wie möglich etwas aus meinem Leben machen, das so vage und fragwürdig wie möglich ist.  Der Weg in diese Paranoia ist am Rand mit buttergelben Nelken beleuchtet, außer es regnet, dann wärmt er von Innen. Ich rühre mit den schwutzigen Füßen in den kalten Wolken, die sich im Fluß spiegeln, ein schwarzer Vogel warnt vor der Dämmerung, die wie eine humanistische Atombombe Opfer zum Trösten sucht. Hier stehe ich und hör damit auf, ich zu sein und übergebe meinem Körper das Kommando, das ihm weggenommen wurde aus guten und schlechten Gründen, ich lass die Löwen und Lämmer in mir neue Landschaften erkunden, in denen ich die Kullissen zukünftiger, neuer Träume kultivieren kann. Ich packe mir meine Lust, in der sonnigen Innenstadt zu trauriger Musik Mülltonnen anzuzünden, in den Rucksack, schlüpfe in meine Mokassins, poltere aus dem kalten, nach Sperrmüll und Jägerpfanne riechenden Treppenhaus,  in die sich langsam drehende und von weichen Lichtpunkten geschmückte Magdeburger Allee auf der Suche nach dem Posaunisten der Cafe-Nerly-Big-Band, der einen Job als Alleinunterhalter am Piano hat, als trashiges, kabarettistisches Vorprogramm. Hoffentlich schaff ich es diesmal, von den nervig-paternalistischen Behörden loszukommen und mir meinen Obstsalat selbst zu verdienen. Früher oder später wird Erfurt Nord sowieso zusammenklappen und dann zählt, wer hier die größte Fresse hat und das werde ich sein!