Alles muss neu verhandelt werden

Ich wache auf und weiß sofort, dass ich noch lebe und dass dies die Realität ist und dass ich Teil der Menschheit bin, dass ich das Jahr 2018 als das gegenwärtige Jahr definiere. Ich weiß, dass es Milliarden Menschen auf der Welt gibt, die ein schlimmeres Leben haben als ich! Wie viel Leid, wieviel unfassbares Leid ist in der Welt! Man kann ihm nur einen Sinn entringen, wenn man sich von ihm inspirieren lässt, es abzuschaffen. Nie werde ich mich und mein Leben und Wirken genießen, nie als selbstverständlich nehmen können, solang es noch einen Menschen gibt, der schlimmer als nötig leidet. Sobald ich aufwache, wird mir bewusst, dass ich mich dazu berufen fühle, mit allem, was ich schreibe und singe und veranstalte, das Leid in der Welt zu mindern. Noch wird mir nicht die Aufmerksamkeit dafür geschenkt, noch muss ich keine Rolle spielen, noch muss ich nicht pathetisch gegenüber einer fremden Menschenmasse sein, noch bin ich der einzige, den es zu überzeugen gibt, dass ich keinen Fehler begangen habe, als ich mich auf eine künstlerische Karriere beschränkt und seitdem sämtliche Kompromisse vermieden habe. Doch zur Tragik meiner Freiheit gehört, dass ich meinen Denk- und Sinnesorganen nicht vertrauen kann; sie konstituieren mir das Universum, ich bin ihnen ausgeliefert und genau betrachtet steckt der Geist in der Sprache und der Sprache alleine: wir sind nichts als Worte, das Ich ist nur ein Gedanke, es gibt keine objektive Perspektive, von der aus ein objektives Urteil über die Welt und das eigene Leben möglich wäre.

Das selbe Organ, das für die Wirklichkeit zuständig ist, ist für die Phantasie zuständig. Um zu wissen, wer man ist und wer man nicht ist, muss man dieses Organ untersuchen, indem man es von oben bis unten benutzt, erfährt, wahrnimmt; alle Zustände zwischen absoluter Anwesenheit und absoluter Abwesenheit auszukostend bildet man das Fundament seiner Persönlichkeit; in der Gesamtheit aller möglichen Zustände das Potential des wahren Selbst ausagierend und mit der chaotischen, unberechenbaren Umwelt interagierend, vervollkommnet man sich als ewiger Flaneur seiner Selbst, unfähig, zwischen Realität und Phantasie zu unterscheiden, alles ernst nehmend, was der Geist aus dem Gehirn kratzt: hier bin ich: im lebenslangen Taumel um eine unsichtbare Idee, die dem Gehirn entspringt und mit so viel wie möglich Überdruss dahin zurückgedrängt werden muss. Unterwerft Euch nicht mehr den Ideen, unterdrückt die Konzepte, wie sie Euch unterdrücken! Benutzt die Worte nicht mehr so, wie es sich gehört, sondern so, wie sie euch passen! Sprecht Euch heilig! Baut einen Autounfall! Tut jemandem Unrecht! Ihr müsst nicht funktionieren, ich seid von keinerlei Hoffnung abhängig, ihr könnt alles im Stich lassen! Ihr seid niemandem etwas schuldig, ihr müsst euch nehmen was ihr zum Leben und Genießen nötig habt! Niemand hat das Recht, unglücklich zu sein: außer die Heiligen und die Narzissten.

Das Leben ist dazu da, die Lust gegen die Unlust zu verteidigen, den Genuss gegen die Entsagung, die Entspannung gegen die Angst, die Faulheit gegen die Materialermüdung, die Möglichkeit gegen die Notwendigkeit, die Phantasie gegen die Wirklichkeit, die Solidarität gegen die Depression. Kein Mensch sollte fürchten müssen, zu leiden, zu verhungern, zu erfrieren, zu verblöden. Die Behauptung, dass das Leben dazu da ist, genossen zu werden, muss unbedingt verteidigt werden! Der Staat muss sich einzig der Aufgabe verschreiben, allen Bürgern ein Leben frei von existentiellen Nöten zu ermöglichen. Die Verhältnisse müssen unter allen Umständen radikal gemütlicher gemacht werden; die Verhältnisse müssen weltweit ausgeglichen werden, es müssen überall die gleichen Sozialstandards herrschen, erst dann ist die Menschheit auf dem Planeten wirklich angekommen, erst dann kann sie zueinander finden. Alles muss neu verhandelt werden! Alles muss neu verhandelt werden!