Feuchte Luft

(1)

Die Stadt klafft in der Mitte eines missmutigen, zerrissenen Europas, das sich nicht für das Elend interessierten kann, das es selbst angerichtet hat, ohne sich selbst zu verändern.

Ein großer, schwarzhaariger Junge läuft barfuß durch die Pfützen, die Sonne kommt hinter den grauen Wolken hervor. Er hat sich nicht mehr im Griff und leuchtet von Innen wie die Mangos, die er eben auf dem Markt gekauft hat. Die Stadt blüht in der feuchten, paratropischen Luft wie nach einem Alptraum auf. Wenn er sein Obst und Gemüse im Sonnenuntergang zu seiner Wohnung trägt und Flöte spielt und mit seinen zwei Hunden in der Gera spazieren geht, kommt er sich wie ein Dschungelkind vor, das er noch nie gewesen ist. Heute hat er fast beschlossen, die Schule zu schmeißen und sich erstmal ein paar Jahre nur um sich selbst zu drehen. Kann man sich hier ganz und gar verlieren, oder verfängt man sich mit jedem Befreiungsschlag nur noch mehr in der Stadt?

Jeder sucht Auswege, mancher findet Auswege; neue Hoffnungen für eine neue Generation von fröhlichen, dysfunktionalen Subjekten, die jeden Tag große Augen machen und schwer atmen und stehlen und weinen und Flüche lallend und Unsinn stotternd auf Dächern tanzen und betrunken von der Straßenbahn angefahren werden und sich Geld leihen und nicht zurück geben können und Angst vor der Zukunft haben und an allen Blumen riechen wollen und eigentlich nur mit sich selbst befreundet sein können und alles und jeden dafür vereinnahmen und ihren guten Musikgeschmack verteidigen würden wie ihr Augenlicht und sich im Mittelpunkt der Stadt wähnen, wenn sie sich mit Hustenstillern dissoziieren und auf einer kargen, blauen Halde an einer lauten Autobahn in den Nachthimmel starren und am nächsten Morgen ganz normal ihrer Wege gehen und den Pennern auf der Straße gern ein Bier oder einen Kaffee kaufen und vor Straßenbahn-Kontrolleuren wegrennen und versuchen ehrliche Gedichte zu schreiben und noch die Gage für den letzten Auftritt bekommen und die auf ihrer Blauäugigkeit reiten wie auf Krokodilen und die Kunst brauchen, um die Hoffnung und die gute Laune nicht zu verlieren und die sich ein paar Jahre im Kreis drehen müssen, um das Leben mit Schicksal und Zufall und Wunder aufzuladen.

Die Verwirrung ist deine beste Freundin, das Staunen über die Aufgebrachtheit der Welt; alle Welt ist aufgebracht und ich würde mich gern mit allen Verwirrten und Zerstörten in den Park setzen und Mandalas ausmalen und auf neuen Regen warten, der die Stadt weiter abkühlt und verdrängte Wünsche und Haltungen herauslockt.
Ich möchte mich mit allen, die sich schämen, mit allen die Angst haben, mit allen die sich verachten, mit allen die sich nicht motivieren können, im Kreis sitzen und wissen, das im Free Jazz mehr Hoffnung steckt als im Neuen Testament und in diesem Wissen ernst und in beliebigen Farben und Formen strahlen.

Ich spüre, wie Erfurt zu meiner Heimatstadt werden will, alles ruft Erinnerungen einer unbewiesenen Kindheit wach und es ergeben sich jeden Tag echte, kleine Wunder, die man kaputt machen würde, wenn man versuchen würde, sie zu verstehen und zu bewerben. - Ich stolpere auf der Suche nach einer Pointe über die Straße, ich spüre, wie mein Blut mich erfüllt, ich schwitze, aber hatte es noch niemals eilig und möchte es auch niemals eilig haben. Ich bin ein Schimpanse, der einen Kunststudenten parodiert, ich möchte mit Obst und Sonne gefüttert werden und mich reinigen vom ermüdenden Zeitgeist, der über Europa das Licht ausblasen will. Ich werde Nachtwache halten. Ich mal mir einen roten Punkt auf die Stirn.

Ich bin erleuchtet, oder ich tu nur so, was das selbe ist, alle Ampeln in Erfurt heißen Mirko, haben einen fetten Bauch vollgestopft mit Hackfleisch und stehen immer nur im Weg herum, aber ich kann mich unmöglich über irgendetwas aufregen, ohne mich lächerlich zu machen. Viele Leute müssen einfach von liebevollen Menschen an die Hand genommen werden. Jemand muss Erfurt über die Straße bringen, es wartet schon so lange und traut sich nicht, es ist so laut und unübersichtlich und seine Knochen sind alt und seine Hoffnung trüb und seine Vergangenheit sitzt ihm genau so schwer im Magen wie das süße, hoffnungsvolle Ferkelchen, von dem es sich für einen Euro am Domplatz ein Stück anschneiden kann und ich bin woanders, "ich nehme nur noch meine unzerstörbare Uncoolness ernst", antworte ich, als mich eine nervige Kunststudentin fragt, wen ich darstellen will. - Erleuchtung heißt: Paranoia genießen können.

Es würde mir reichen, jedes Jahr von neuem Romanfragmente in die Stadt zu streuen. Ich finde es nicht langweilig, immer an der selben Stelle am Fluss Wasser zu trinken. Es ist gut und richtig, einen Körper zu haben, es ist gut und richtig, ihn zu benutzen, aber ein Esel will ich nicht werden und ein Schmetterling auch nicht. Ich kann mich am besten mit mir identifizieren, wenn ich barfuß in der Gera herumlaufe und Flöte spiele und mich darauf freue, dass bald alle Menschen synchronisiert sind. Das ist meine Utopie, die ich mir verordnet habe, als mich die Idee, dass die Menschheit ein einziger Organismus ist, erschüttert hat. Ich würde es schön finden, wenn wir uns alle beruhigen und gemeinsam zur gleichen Zeit nach innen schauen könnten.

(2)

Wenn du depressiv bist, habe ich Hoffnung für dich: du kannst den Gedanke, dass du an deinen Charakter, deine Seele, dein Ich gekettet bist, abschaffen, und deine Depression verliert die Grundlage ihrer arroganten Allgegenwärtigkeit. Erst wenn du überzeugt bist, dass es keinen unveränderlichen Kern, kein zentrales Wesen, keine klare, eindeutige Essenz in dir gibt, können deine Störungen und Gedrücktheiten zwischen allen Vorstellungen ins Nichts kleckern. Wenn du ängstlich bist, habe ich Sehnsucht für dich: wenn du dich von dir losmachst, erhebst du dich über all deine Eigenschaften und du kannst über deine Ängste und Hoffnungen, deinen Ekel und deine Liebe verfügen wie über Spielzeug, mit dem du machen kannst, was du willst.

Was leidet in dir an einer depressiven oder ängstlichen oder aggressiven Grundverstimmung und müsste sich hoffnungsvoll strahlend an die Utopie der Dissoziation klammern wie die Niedlichkeit des Lammes den Schlachter von seiner Lohnarbeit abhalten will? Hier ist Weisheit: das Ich ist ein Wahn, der gleichzeitig manisch und depressiv macht; ohne Ich kann man keinen Beruf ausüben; mein Stolpern über meine eigenen Füße ist mein Orakel-Sprechen über die Zukunft der Europäischen Jugend.

Ich sitze umhüllt von weißem Juniwetterschaum in einer Collage aus Worten und Spiegeln und Gespenstern und Fehlern und Löchern und radioaktivem Sternenstaub und ekelhaften Eltern und Terroranschlägen von dunkelhäutigen und weisshäutigen Terroristen und weich ist das Denken und weit die Gedanken und es geht die langsame Treppe nach unten, ins Glück der Eingeweide, ins Blut, das hoffentlich noch eine Weile meinen Laden am Laufen hält.

Die Geschichte ist die Ursache der Gegenwart, die Zukunft ist die Folge der Gegenwart. Unser gegenwärtiges Denken ist eine Collage aus Erinnerung und Phantasie. Wir schauen in lauter vergangene Momente, in denen wir selbst auch nur mit etwas anderes beschäftigt waren. Wir sind niemals gegenwärtig, wir bleiben niemals stehen: wie könnten wir aber sonst zur Ruhe kommen und gründlich darüber nachdenken, wer wir sind und sein wollen und was wir dafür tun müssen? Es gibt bestimmt kein besseres Prinzip im Leben als try and error.

Als ich gestern überlegt habe, was ich in einer Talkshow auf die Frage antworten würde, was ich den wieder deutlich aufblühenden faschistischen Elementen entgegnen würde, nämlich: "Welche Kultur wollt ihr denn verteidigen? Nennt doch mal fünf deutsche Größen der letzten 30 Jahre! Wer repräsentiert euer Deutschland?", hab ich auf der Straße 30 Euro gefunden. Im Hintergrund meines Selbstgesprächs flatterte die Frage, ob die letzten 30 Jahre überhaupt etwas Objektives über unser Land und seine Individuen aussagt. Die 30 Euro machen mir die letzten zehn Tage des Monats gemütlicher als erwartet. Manchmal gibt es echt gute Tage in Erfurt: wenn ein starkes Sativa in der Stadt ist und es allerhand zu tun gibt: vielleicht werde ich wirklich ein Stadt-Liedermacher, ein echtes Gespenst zum Anfassen. Ich bin so glücklich über symbolisch aufgeladene Zufälle, dankbar für all die tollen Leute, die ich in letzter Zeit kennenlernte. Je ernster ich mich nehme, desto mehr Möglichkeiten ergeben sich für mich. Ich glaube, ich war noch nie so glücklich.

Meine Dissoziation ist der Zenit meiner Euphorie, es fühlt sich an, als würde ich den Europäischen Mythos neu begründen, auf einer Bank in meinem immergrünen Hinterhof an einem tropischen, graugrünen Juninachmittag in der Mitte von Europa, in dem Land, in dem es am leichtesten ist, komfortabel nichts zu tun, als sich um sich selbst zu drehen. Ich bin der Entspannteste von den Ärmsten, der Unabhängigste von den Freien, ich schleiche mich überall durch, ohne irgendwo dazuzugehören, die Behörden lassen mich in Ruhe, der Vermieter lässt mich in Ruhe, alle lassen mich in Ruhe; von dem Geld, das ich Mama-und-Papa-Staat abzwacken kann, kann ich mir alles leisten was ich brauche: ein Zimmer, Obst, Tee, Cannabis, Internet und Musikinstrumente.