Der Stich

(1)
Unter meinem Spülbecken ein warmer, dunkler Sumpf, blau-leuchtende Libellen und entspannt den Feierabend genießende Mücken, die Sonne geht mit schiefem Grinsen hinter einer Bierflasche unter, sie wünscht mir eine gute Nacht, ich lieg auf dem Rücken und zähle die grünen, tropfenden Flecken an der Decke wie Sterne, und eine rote Spinne flitzt über meine Stirn, ich gähne und will mir einen Kaffee machen und dann den weichen, warmen Filter in den warmen, dampfenden Sumpf unter meinem Spülbecken schmeißen.

Ich öffne das Fenster und der violette, nach Regen, Sommerwald und Schweiß riechende Morgen strömt durch mein Zimmer, in meine Lungen und ich fühle mich belohnt für eine Tat die ich erst noch vollbringen werde. Von zärtlichen Klagen tieftrauriger Jungs emporgerissen aus meiner mittsommerlichen Gleichgültigkeit unter schattigen Bäumen zur Morgendämmerung, könnt Ihr Euch auf mich verlassen, ich liebe Euch! Ihr seid meine allerbesten Freunde...

Jemand sägt an unseren Nerven, wenn wir versuchen, heil aus der Einkaufshölle der Innenstadt zu gelangen. Heil, das heißt: sensibel, offen und entspannt. Jede größere Stadt macht aus Menschen gefräßige, bösartige Trampeltiere. Alle Menschen sind hier Trampeltiere, die Glücksspiele spielen. Ihre Arbeit, ein Glücksspiel, ihre Erziehung, ein Glücksspiel, ihre Träume, ein Glücksspiel, ihre zwischenmenschlichen Beziehungen, Glücksspiel, Pechspiel, Lirum-Larum-Spiel. Wer sowas ernst nimmt, will auch eine Verschärfung des Asylrechts.

Wie süß du bist, wenn du dich weigerst, die bunten Acryl-Flecken aus deiner Jeans zu waschen, wenn du gegen Laternen trittst oder dich in deinem Kopfhörerkabel verheddderst, wie süß du bist, wenn du weißt, dass alle dir deine Wünsche erfüllen werden, weil du so süß bist. Wie süß du bist, wenn du nicht mehr atmen kannst, weil das Mädchen geschrieben hat, in das du verliebt bist, in das du unglücklich und für immer verliebt bist und ich freu mich für dich, denn ich weiß, dass dich dein Liebeskummer zu einem richtigen Mann machen wird, denn dann erst wird sie sich in dich verlieben. Ich weiß, du wirst eines Tages ein richtiger Mann sein, während ich immer ein Junge bleibe: du hast also nichts von mir zu befürchten. Komm, wir gehen wieder zu den Anderen!

Auf dem Markt kaufe ich die rotesten Tomaten und die größten Auberginen und die weichsten Bananen und die süßesten Trauben und die gesündesten Säfte und eine pinke, nuttige Perücke und ein hässliches, rotes Kleid und einen teuren Schnaps aus dem vorigen Jahrhundert, um genau zu sein von 1995, dem Jahr in dem mein Großvater starb. Ich hab Lust, zum nächsten Open Mike ins Retronom zu gehen und mich aufgetakelt als trashige Transe mit den Jungs zu battlen, diesen heterosexuellen, lahmarschigen, süßen Pseudo-Matchos. Ich mag es dort. Ich möchte den ganzen Laden zerlegen mit meinen zerschmolzenen Kampfschlagern von Liebe und Schmerz. Ich verteile rostige Nägel an ein besoffenes Publikum, ich schwitze meine Verachtung sämtlicher Verhältnisse in meinen ekligen Fummel. "Maria ritzt sich wieder ihre verdammte Zuversicht auf, und Daniel fickt ein Loch in seine Gleichgültigkeit, der Mann gegenüber ernährt sich nur von Nostalgie, seine Frau schmiert sich fleißig Intensität in die Fresse - wenn es Frühling wird in Erfurt Nord." Ich werde langsam richtig betrunken und verfluche meine Entscheidung und sehne mich nach einem entspannten Nachmittag mit meinen Jungs im Park. Ich habe das Gefühl, in Erfurt alles bekommen zu können, was ich will. Ich bring das Lied zu Ende und stolpere dann übertrieben gekünstelt aus dem Lokal. Kunst kommt von wollen. Ich verschwinde in meinem Bett in dem Wissen, nichts mehr als ein Möchtegern zu sein, ein weicher, stolzer Möchtesehrgern. Wieviel Zufriedenheit halte ich aus? Wieviel Gegenwart kann ich behaupten? Der Gedanke, morgen jemand anders zu sein, macht dass ich kurz vor meinem 30. Geburtstag nicht älter als 20 aussehe.


(2)
Entscheide dich so langsam wie möglich und sei zu den Leuten freundlicher als sie es verdient haben und du kommst gut durch Ilversgehofen, wenn der Regen kalt und fröhlich die Stadt reinigt vom Gestank rücksichtsloser Nörgler, und die Säufer, die sich nirgends zu Hause fühlen, fragen sich in dunklen Ecken und von Langeweile und Desinteresse ausgehöhlt, was sie falsch gemacht haben und bis zum Ende der Kornflasche haben sie dieser Frage jede Dringlichkeit geraubt, damit ihr Gehirn glühen kann in dumpfer Wonne, so als wäre das der letzte Tag ihres Lebens: mit etwas Glück haben sie alles bald hinter sich. Ich sehe in ihren feindseligen Augen, dass sie sich dafür schämen, am Leben bleiben zu wollen: sie wissen, dass niemand ihnen ihr Leben gönnt: sie wissen, dass sie nur geduldet werden. Würden sie sich nur mit Cannabis oder Kaffee berauschen, könnten sie stolz auf ihre Nichtigkeit sein, könnten sie die Erwartungen, die der Staat gut begründet an sie stellt, mit einem weichen Lächeln zerstören: während Alkohol bloß ihre Hemmungen abbaut, Frust abzulassen und wenn sie niemanden finden, der sich von ihrem Frust treffen lassen will, verlieren sie jede Hoffnung und versuchen noch ihren Frust kaputtzutrinken. Zum Leidwesen aller ist ihr Frust derart mit ihrem Körper verwachsen, dass sie sich erst vollständig ruinieren müssen, bis auch der Frust nicht mehr spürbar ist. Alkohol ist eine nihilistische Droge und eine Gesellschaft, für die Alkohol eine Selbstverständlichkeit ist, kann niemals eine solidarische, freundliche, saubere, gemütliche Gesellschaft sein. Ich versuche Alkoholiker als Kranke zu bemitleiden, aber oft überkommt mich nur ein dummes Ekelgefühl, das mich erniedrigt und verkrampft. Ich weiß, es sind nur armselige Opfer der Gesellschaft, jämmerliche Zurückgebliebene, kaputtgemachte Lahmärsche, dummgehaltene Trauerklöße: ich werde niemals ein Gefühl für ihr Leid haben, ich werde nie begreifen, was es heißt, derart heruntergekommen zu sein. Während mich die Sackgasse, in der sie stecken, an die Sackgasse erinnert , in der meine wohlhabenden, von Arbeit, Bier und Fernsehen abhängige Eltern stecken, keimt in mir der zartegrüne Wunsch, einen Säufer mit einem Schnaps-Butandiol-Cocktail zu töten: "Hier, Chef! Trinkst du was mit mir?" In meiner Flasche ist natürlich nur Wasser. In fünf Minuten müsste er taumelig werden, in fünf weiteren Minuten in Ohnmacht fallen und dann ist es nicht mehr lang, bis sein Atem still steht und mir wird ganz warm in der Brust und mein Gesicht fängt an, violett zu schimmern und zu vibrieren, ich habe Lust mir in die Hosen zu pissen. Nach fast zehn Jahren in der Stadt bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass man, wenn man kein Opfer der Stadt werden will, der Stadt etwas antun muss. Meine Graffiti-und-Edding-Tags reichen mir nicht mehr aus. Vielleicht sollte ich auch einfach nur bisschen Geld für Cannabis sparen.

(3)
Ich schaue in der Mediathek vom 3sat eine Scobel-Sendung über die Verrohung der Gesellschaft. Kulturfernsehen erhöht deutlich die Lebensqualität. Arte und 3sat gehören zu meinem täglichen Leben, sie sind die Grundsäulen eines gelebten Europagefühls. Kulturfernsehen ist ein Antidepressivum für Abiturienten. Solche Esel wie meine Eltern können von sowas nicht profitieren. Angesichts der spürbaren Verrohung der Gesellschaft werden mir die langweiligen, christlichen Ideale sympathischer und mein Pathos vom rauen, insomnisch aufgepeitschten Taugenichts unsympathischer. Es muss doch etwas geben, woran jeder sich anlehnen kann, etwas dem jeder vertrauen kann. Der Professor dessen Gesicht dem eines Raben ähnelt: "Ich träume von einem Europäischen Selbstbewusstsein, einen Patriotismus, den man lebt, sobald man glücklich ist in einer freien, offenen Gesellschaft die für jeden da ist." Plötzlich bin ich im hier und jetzt und werde mir der Reichweite meiner Meditationen bewusst: in diesem träumerischen, stürmischen Sommer, während Europa spürbar kälter wird, denn mit der Globalisierung globalisieren sich auch die Probleme, das haben die Wirtschaftsweisen und Börsen-Piraten und Christdemokraten nie bedacht: in der Welt sind, als sie zum Dorf wurde, alle Grenzen zwischen heiler Welt und grausamer Welt verschwunden, alles, was auf der Welt gescheiht, geschieht uns allen, jeder Terroranschlag geschieht uns, jede Hinrichtung geschieht uns, jeder Drogentote, jedes Vergewaltigungsopfer, jeder Bürgermeisterskandal, eder Wahlbetrug und jeder erschossene schwarze Teenager. Alles, was Menschen einander zufügen, fügen sie allen Menschen zu. Die gesamte Menschheit kann sich erst mit sich selbst beschäftigen, wenn eine Disziplin wie im Seminarraum einer Englischen Eliteuniversität herrscht: das nenne ich Weltfrieden, und bevor der nicht hergestellt ist, müssen wir nicht weiter über mein politisches Engagement reden. Meine Mittel sind begrenzt: ich kann Reden halten und Dinge tragen, und am liebsten schreibe ich von meinem Ich loszukommen und mich dissoziierend zu reinigen. Man kann sagen, ich möchte mich für Europa frisch machen. Europa ist für mich erstmal noch ein Gerücht, bevor ich es nicht mal zum Dinner eingeladen hab. Und solang ich in meiner Thüringischen Feigheit vor dem Müßiggang und der Lustwaandlerei und Herumschmiererei verharre, kann ich kein Gefühl für das Europa bekommen, zu dem ich uns eines Tages aufraffen will und für dass ich in diesem schönen, wilden Sommer langsam ein Gefühl ertaumel, wenn ich planlos durch Erfurt laufe und die strahlenden Südländer grüße, die es sich auf dem dreckigen, kahlen, feindseligen Anger gemütlich machen und mir billige Chips und eine Mate kaufe und versuche mich allgemein zurückzunehmen und mich völlig frei von meinen üblichen Handlungsmustern sein will, die nur von Angst vor Peinlichkeiten motiviert sind, dabei ist Peinlichkeit nie etwas schlimmes, wenn man bedenkt, wie absurd schwer sich der Mensch das Leben macht. Der Mensch kann nicht aufhören mit dem Blödsinn, weil er sich selbst nicht loswerden kann. Dissoziation ist eine Möglichkeit, sich zu verändern, wenn man sich zwar verändern will, aber nicht kann. Viele Menschen wissen, dass sie bösartige, lieblose, feindselige Idioten sind, aber sie können sich nicht loswerden, weil ihre Dummheit und Aggressivität und Gier fest mit ihrem Körper verwachsen ist und ich bau mit dem Fahrrad einen Unfall und hau mir einen Schneidezahn raus.

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Ob man in einer anderen Wirklichkeit jenseits der Alltagsrealität geraten kann, wenn man träumt oder bestimmte Drogen genießt? Ob es eine Realität gibt, die erst von zukünftigen Lebewesen erfahrbar und gestaltbar wird?  Vielleicht wird die Gegenwart erst in der Zukunft geschaffen? Unser Gehirn kann sich vielleicht mit psychedelischen Substanzen in eine andere Welt einklinken. Vielleicht gibt es Menschen, die das Erlebnis dieser anderen Wirklichkeit sinnvoll verarbeiten können. Vielleicht aber können bestimmte Drogenerfahrungen den Menschen bloß daran erinnern, wofür er einfach noch nicht reif ist und vielleicht nie sein wird.

Unfähig, wesentliche Dinge im Blick zu behalten, überfällt mich eine namenlose Panik, der ich gewachsen bin, wenn ich mir John Adams Shaker Loops an die Kehle halte. Ich habe Lust, Gott einen Honigklecks von der Wange zu lecken. Wenn er wirklich weiß, dass meine Hoffnungen auf eine gemütliche neue Welt echt sind, dann kann er nichts dagegen haben.

Meine Kufen! Ständig bleibt die Rolltreppe stehen und mein Schnürsenkel flattert gegen die Luft an. Ich betrachte ihn und werde schon ganz wehleidig, doch plötzlich übermannt mich Gemüse ist ausgelutscht jetzt kann ich weiter gehen. Das geht auch aufrichtiger, sprach der S3ecurity-Mann in schwarzer Warnweste. Mir kroch ein gleisendes Kitzeln über den Nacken. Keiner applaudierte. Ich musste sofort an die Buntstifte denken. Chaos brach los, doch dann schob sich das Gesicht des Mannes in Alltagslage zurück und ich sprach: Jo, ich mach dir mal auf! Ewald kommt zurück und lamentiert: "Das JO wird gestrichen!" Er öffnet die Tür und wer kommt? Keiner. Warum kommt keiner? Das Tor ist zu, sie muss aussen rum, sie wusste es nicht.