Das Aufweichen

Die Abschaffung von Erfurt ist eine von Schlaflosigkeit und Erfurt ausgelöste Abschaffung des Ichgefühls, wie als hätte die Schlaflosigkeit Erfurt aus dem Ichgefühl subtrahiert.

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Erfurt ist vollkommen aufgeweicht von der fundamentalsten Behauptung, die ich jemals unter meinem Bett gefunden habe: es gibt mich nicht, es hat mich nie gegeben und es wird mich niemals geben: denn ich bin weder mein Gehirn noch mein Schreiben noch meine Stimme noch meine Vergangenheit, ich bin nicht mein Körper und nicht mein Name.

Man lernt die mit Erinnerung und Phantasie gepolsterte Innenperspektive des Organismus, in den man sich eingeklemmt hat, als Ich zu behaupten und was man gelernt hat, kann man wieder verlernen. - Das Ich ist ein Programm im Kopf des Menschen, das sich aus klaren und unklaren Gedanken zusammensetzt. Das Ich ist ein Modell, ein Gedankenkonstrukt und folglich genau so instabil, ambivalent, mehrdeutig, dezentral, wild und ziellos wie das Denken selbst. Dieses Buch versucht nichts weniger als die Tatsache zu zelebrieren, dass ich keine Person bin.

Es ist unmöglich, keine Rolle zu spielen. Das Konzept der Authentizität muss verworfen werden, denn es gibt nicht den wahren Kern an einem Menschen. Das Ich ist nur eine Behauptung, genau wie der Staat nur eine Behauptung ist, genau wie Gott nur eine Behauptung ist, genau wie die Alternativlosigkeit der Marktwirtschaft nur eine Behauptung ist, genau wie Liebe und Kunstwerke nur Behauptungen sind, genau wie Wahrheit und Sinnlosigkeit nur eine Behauptung ist.

Jede Behauptung verdient eine gegenteilige Behauptung. Dieses Buch wird von der Behauptung zusammengehalten, dass es sich lohnt, zwischen allen Behauptungen seinen Krieg und seinen Frieden zu finden. - Ich bin, was ich von mir behaupte; ich bin, was Andere von mir behaupten; ich bin der, der ich sein muss, ich habe keine Wahl, denn es gibt niemanden in meinem Körper, der eine Wahl hat, denn ich bin nicht der, der einen Körper hat, sondern ich bin der Körper, der "Ich" behauptet. - Ich bin ein Schriftsteller, weil ich behaupte, ein Schriftsteller zu sein und alles, was mich als Schriftsteller geil macht, beeinflusst mein Werk und Wirken; und indem ich von mir selbst Zeugnis ablege, definiere ich mich und solang mich niemand sieht, existiere ich nicht, und sobald mich jemand sieht, existiere ich.

Aufgeladen mit allen Missverständnissen, die dem Begriff Kunst innewohnen und in fröhlicher Ermangelung einer endgültigen Form stelle ich mich in Opposition, ungreifbar, aber erfahrbar, wie die Liebe, wie das Morgenrot, wie ein Autounfall.

Alles, was unsere Eltern uns beigebracht haben ist, in ihrer Welt der Automaten und Dienstleister zu funktionieren. Das Funktionieren ist eine Falle. Das Funktionieren ist ein Torpedo, abgefeuert aus Angst vor Ertrinkenden.

Kunst ist die letzte Rettung der Menschheit. Jeder muss Künstler werden. Wir aufgebrachten Geister, wir Namenlosen, wir Ausgestoßenen und Nichtsnutze, wir Selbstmörder und Abgestochenen, wir Geldgierigen und Gottlosen, wir der Erlösung Bedürftigen, wir der Heilung Zustrebenden, wir werden über uns selbst herfallen, wenn wir uns nicht gegen unsere Lebensbedingungen solidarisieren.

Wir müssen alle Grenzen und Verfassungen und Gesetze neu verhandeln! Alles muss ganz gründlich renoviert werden! Eine einzige Menschheit mit einem einzigen Schicksal: wir sitzen auf dem Klo und scheißen blutigen Gulasch in die Gehirne der Lehrer und Funktionäre und die Sonne geht unter und wir schauen unbegründet fröhlich in die Zimmerecke und in dem Moment, in dem mir klar wird, was meine Eltern an dieser Stelle gerade denken, explodiert in Kabul eine Bombe und der IS wird weiter zurückgedrängt und überdenkt sich das alles nochmal und ich liege mit einem erwachsen gewordenen Mogli aus dem Dschungelbuch auf einer gelben Hängematte über dem Gera-Ufer und wünsche mir nichts mehr, der stellvertretende Ortsteilbürgermeister paddelt unter uns durch und wir grüßen freundlich und er grüßt freundlich zurück.

Ein Gedanke hält meine Hoffnung an eine grundlegende Neuordnung der Welt zusammen (wie fleischfarbne Knetmasse): es ist theoretisch ABSOLUT möglich, dass wir uns alle darauf einigen, alles in Ruhe und mit großer Sorgfalt und Liebe neu zu gestalten, es ist möglich, dass sich alle Menschen beruhigen und synchronisieren und gemeinsam Sozialstandards aushandeln, auf die sich alle Menschen berufen können.

Europa ist eine Behauptung, nicht nur ein Markt oder Staatenbund. Europa ist eine Behauptung, eine fröhliche Behauptung wenn man es auch will - Warum macht das, was ich mit mir gemacht habe, nicht Europa mit sich selbst? Das ist die finale Pointe meines Komposthaufen-Buches: warum behauptet sich Europa nicht nochmal ganz grundsätzlich neu? Das Brüssler Europa ist ein netter Versuch einiger von Kriegsangst und Marktgläubigkeit gedrückter Bürokraten gewesen, eine heile Welt zu schaffen und ich bin einer ihrer Söhne, einer ihrer freien, zukunftseuphorischen Geister, der großschnäuzig seinen Glauben an die Menschheit in unendliche Notizbücher verstaut. Ich bin vollgesogen mit einer absurden Dringlichkeit, die die rote Glühbirne neben mir platzen lassen könnte. Wer behauptet Europa neu? Von welchen Idealen soll derjenige, der Europa behauptet, getragen sein? Die Offenheit dieser Frage küsst alle Bewohner von Erfurt wach und damit hat es sich mit dieser Stadt endgültig erledigt.

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Wir fröhlichen Europäer müssen Europa gegen die griesgrämigen Kleingärtner behaupten! Deshalb wollen wir unsere Heimatstädte allesamt aufweichen! Wir fröhlichen Europäer erfinden ein neues Ideal, das die Grenzen der Stadt und der Nation ebenso auflöst wie die Grenze zwischen Ich und Körper und Außenwelt und Innenwelt. Europa ist das blaue Zelt, unter dem wir den ganzen Sommer dissoziieren können auf unbeqqqqqqqquemen Matratzen und an kühlen, grünen Flussufern und in engen, stickigen Straßenbahnen und in nach Teppich und Kaffee riechenden Büros, in einer aufgeblasenen, tristen Bürokratie.

Europa ist eine Behauptung und ich behaupte sie, indem ich meine Heimatstadt wie mein Ichgefühl auflöse und das ganze Elend der Welt schwebt mir vor Augen und ich weiß, was zu tun ist! Wir müssen uns alle beruhigen, wir müssen dafür sorgen, dass es in Europa für alle gemütlich wird und jeder sich um wirklich wichtige Dinge kümmern kann. Knapp 500 Euro im Monat gebe ich aus, um Europa zu behaupten, Geld das mir Europa gibt: mein Europa: es existiert in mir, es lässt den grünen Smaragd hinter meiner Stirn leuchten, der mich auf Kurs hält, wenn ich hypersensibel und geschlechtsneutral wie eine weiße, glänzende Kugel durch die Innenstadt rolle auf der Suche nach Koffein und Sensationen. Viele Leute sehen so aus, als hätten sie Lust, mich an einer Fließbandarbeit leiden zu sehen. Manchmal grüße ich sie mit einem Pudding-Grinsen, manchmal schrecke ich nur ängstlich zurück und stell mir vor, wie ich ein Haus anzünde und fast an meiner Schadenfreude ersticke. - Das Publikum jubelt und ich kann endlich meine Miete bezahlen, denn ich bringe Menschen zum applaudieren und dafür bekomme ich Geld und dafür kann ich wohnen und essen und kiffen. Ich hinterlasse meine Spuren und identifiziere mich mit allem, was meine Worte bewirken werden.

Meine Zuversicht reibt sich die Augen, schlüpft in ihre Pantoffeln und ihren Bademantel, schlürft zum feierlich aufgebahrten Müsli, der gesund und freundlich leuchtet, mein Herz erschrickt über die schrille Intensität des Alltäglichen, ein übertrieben freundlicher Herzkasper, das dumme Grinsen eines Regenbogens, die schillernde Heruntergekommenheit einer bunten Garage, in der auf rotem, weichen Teppich ein paar geschmackvolle Verlierer über Humus-Wraps und Sonic Youth plaudern, im Fernsehen regt sich meine Mutter über den Bau eines Flüchtlingsheims in der Nachbarschaft auf und was passiert, wenn man es immer weiter treibt und sich gehen lässt, ohne sich zu distanzieren durch Musikmachen, Wortemachen, Bildermachen, Filmemachen, Häusermachen, Gedankenmachen? - Es ist so anstrengend, Sinn ergeben zu müssen. Ich liege herum wie die leuchtenden Straßen und ein weißes Kopfkissen weit geöffnet wie die Sonne, ich liege auf der warmen Erde und bin aufmerksam wie ein Polizist auf der Suche nach nicht verkehrsfähigen Fahrrädern, ich stehe am Anger wie eine blaue Ampel, ich blinke auf der Suche nach dem Satzanfang, ich verkaufe frische Brötchen und Kaffee, der dich drei Tage wach macht, wenn du vorher einen Liter Grapefruitsaft getrunken hast. Ich bin dein bester Freund, ich möchte neben dir einschlafen.

Ich liebe es mich bei fröhlicher Musik im Hintergrund in die Perspektive von Leuten hineinzusteigern, die meinen Texten nichts abgewinnen können, so wie ich nichts meinem Leben abgewinnen kann, außer meiner Phantasie, und für sie nehme ich meine schwarze, schwere Krone von meinem Kopf und dreh die Intensität des Sonnenuntergangs auf Stufe 3 und der grüne Diamant hinter meiner Stirn hält mich in Balance, während ich einbeinig an der Kreuzung stehe und darauf warte, dass das Ampelmännchen grün wird.

Alles was ich denke ist eine Maschine. Die Knochen der Fabrik leuchten weiß und die Opposition enthält sich. Merkel und Hollande wollen Europa sicherer machen, denn Sicherheit ist eine Sicherheit. Handlungen müssen schneller vollzogen werden, weil der Terrorismus nicht wartet. - Das Wetter ist eine Autorität, die im Süden heiter bis regnerisch um 23 Uhr wiederkehrt. Stau Stau Stau. Kleeblatt wechselt den Radiosender. Manchmal gibt es Stau in der Welt. Zwischen Berghof und Schwarmstedt liegen sieben Kilometer auf der Fahrbahn.

Ich verändere gern mein Leben, ich liebe Schlüsselerlebnisse in mehrfacher Hinsicht, ich lasse alle Formen der Orientierung hinter mir, ich lasse mich nicht drängen, ich schlage Brücken in alle Richtungen. Ich steige in Westafrika in ein Boot und überlebe die Reise nach Europa und freue mich über mein Leben und habe Angst um das Leben meiner Familie und schlafe auf einem weichen Bett ein und gebe ein Konzert mit meinen schwarzen Freunden und es kommt Eins zum Anderen; oh ich denke gern, wenn das Zimmer hell erleuchtet ist und ich vertraue gern Menschen, aber überall wuchert das Misstrauen. Kleeblatt ist aufs Dach gestiegen und meldet sich über Walkie-Talkie: "Wir sind international sichtbar, alle können es sehen: wir sind absolut blockiert. Wir müssen ein anderes Gesicht machen, damit uns andere Gedanken kommen!"

Europa ist eine Idee und eine Idee muss regelmäßig gedüngt werden: Gedanken, die beim Lesen dieses Buches entstehen, sind Dünger für ein neues Europa - wohlgemerkt nicht die Gedanken in diesem Buch.

Was gibt es für einen großartigen, neuen Kontinent zu bauen! - Die Zukunft ist interessanter als die Vergangenheit, die Möglichkeiten sind wichtiger als die Notwendigkeiten.

Bunten Schaum prahlend und mit bohrenden Insekten-Augen und glühendem Frontallappen sehne ich mir ein neues Europa herbei. Europa ist ein Ambiente-Musik-Orchester, Europa ist eine Blumenwiese, Europa ist die Software für dissoziierte Menschen, Europa ist die Wiege des Humanismus, Europa ist die institutionalisierte Hoffnung der Menschheit auf ein gemütliches, freundliches Leben, Europa ist ein Festival der Menschheit, Europa ist kollektive Euphorie, Europa ist ein kollektives Bewusstsein, Europa ist eine Behauptung und ich behaupte sie.