Mein Name

Der Weg zur Befreiung führt über die Infragestellung des eigenen Namens. Willst du heißen, wie du heißt? Hast du deinen Namen verdient? Wenn du dich ihm nicht wiedersetzen kannst, hast du ihn verdient. Mit diesem Buch beweise ich, dass ich den christlichen Vornamen, den meine atheistische Mutter mir ausgesucht hat und den urdeutschen Nachnamen, den der weiche Alkoholiker beigesteuert hat, um die Spuren des harten Alkoholikers, meines Vaters, vergeblich aus der Familie zu beseitigen, nicht verdient habe. Sobald ich morgens meinen ersten Kaffee getrunken habe, vertiefe ich mich, durch die lieblosen Straßen von Erfurt schlendernd, in den Hass, den Ekel, den Tod, den ich für meine Eltern empfinde; was für ein Tonikum ist die Ungerechtigkeit des Hasses!  Oh, es steckt noch so viel Ostdeutschland in mir...

Der Weg zur Befreiung ist ein Weg der Rache. Den Hass gegen mich selbst, den ich in meinen 20er-Jahren empfunden habe, der mich aus allen bürgerlichen Strukturen geschmissen hat, bin ich losgeworden, indem ich meine Rachebedürfnisse gegenüber denen, die mich hassenswert machten, ernst genommen habe, ernster als es mir dem Sittengesetz nach zusteht. Erst wenn meiner Mutter die Lust am Leben vergeht, werde ich aufatmen können, deshalb habe ich mir den Namen Demien gegeben: im zweiten "Omen"-Film heißt der Sohn des Antichristen Damien. Ich wünschte, ich hätte eine Mutter, die mich aus guten Gründen nach dem Sohn des Teufels aus einem Hollywoodfilm benannt hätte. Meine diesem Buch zu Grunde liegende Behauptung, dass jeder seinen Körper und seine Identität frei gestalten kann, kann ich nur glaubwürdig vertreten, wenn ich mir meinen Namen selbst aussuche. Die Unfähigkeit zu beantworten, was genau das ist, das in mir meinen Namen ausgesucht hat, ist so prickelnd wie ein ernstgemeinter Kuss.

Ich habe viele Nachnamen probiert, bis Bartók an mir kleben blieb. Im Jahr 2010 habe ich mich bei Facebook und Bandcamp unter "Demien Bartók" registriert und alle Menschen, die mich seitdem über das Internet kennenlernen, nennen mich so, auf meinen alten Namen reagiere ich fast nicht mehr und nur Freunde, die mich länger als sieben Jahre kennen, sagen noch "Tobi". Meine Eltern und damaligen Freunde haben mich immer Tobias genannt, nach Erfurt umgezogen wurde ich dann nur noch Tobi genannt, was mir geholfen hat, meine frühere Identität hinter mir zu lassen. Schade, dass ich nicht damals schon so reif war, mir in einer neuen Stadt einen neuen Namen zu geben. Erst in Erfurt lernte ich, mich wirklich ernst zu nehmen. Die Menschen in Sachsen, von dort komm ich, besonders im grässlichen Erzgebirge, haben es schwer, irgendetwas ernst zu nehmen, abgesehen von ihren deprimierenden Lebensbedingungen nehmen sie nichts ernst, weder die Kunst noch die Liebe noch die Menschheit als Ganzes. Anyway, eines Nachts stürzte ich kaffeeirre in den Soundtrack von The Shining, so ergriffen wie in der Nacht war ich nie wieder von Orchestermusik, Györgi Ligetis Lontano hat mich aus meiner Biografie geblasen und Béla Bartóks Adagio küsste in mir ein Gefühl für die Land- und Leidenschaften nie kennengelernter Vorfahren wach.

Meinen deutschen Nachnamen hat mir die Person verpasst, die mich am meisten gedemütigt hat: der Mann meiner Mutter. Niemand, der mich auch nur ein bisschen sympathisch findet, könnte mir zumuten, diesen Namen zu tragen. Zu wissen, dass meine Eltern es albern finden, dass ich meinen alten Namen ablege, ermutigt mich; Erzgebirger finden alles albern, was sie nicht verstehen oder was sie nicht beherrschen können (zumindest die Erzgebirger, die dem rechten oder unpolitischen Spektrum zuzurechnen sind).

Fern davon, ein echter Patriot zu sein, bin ich doch kein Antideutscher. Deutschland ist ein Konglomerat veränderbarer Institutionen und Machtstrukturen, aus Theorien und Begriffen, aus Missverständnissen und Unaussprechbarem: man kann nicht mit dem Finger auf einen Schuldigen zeigen. Ich schäme mich nicht, Deutscher zu sein, ich verdanke (hoffentlich auch unter der kommenden Regierung) den deutschen Sozialgesetzen ein gemütliches Leben; auch wenn ich mir meine Würde aus meinem künstlerischen Schaffen ziehen muss, um nicht depressiv zu werden unter den Lebensbedingungen in Erfurt, während mir dem Gesetz nach doch bedingungslos Würde zugesichert wird; klugerweise hat man sich nicht auf eine unmissverständliche Definition von Würde geeinigt, sonst würde am Ende noch jeder Bürger sie einklagen! - Der Gedanke, dass es in anderen Ländern so viel schlimmer als in Ostdeutschland ist, bildet die einzige Substanz meines Patriotismus. Mit der Antideutschen Linken konnte ich mich nie identifizieren, für mich sind das undankbare, fanatische, selbstherrliche Spießer, die genau wie die völkischen, autoritären Irren nicht wahrhaben wollen, dass die Welt viel komplexer ist, als dass eine Ideologie ihr gerecht werden könnte. Niemand ist isoliert, wir alle sind an allem schuld: erst wenn man dissoziiert, wenn man sein Ego abschafft, das zwischen Innen- und Außenwelt, zwischen Ich und die Anderen unterscheidet, wird man wirklich Verantwortung für diesen Planeten übernehmen können.

Mit einem deutschen Nachnamen würde ich es mir außerdem viel zu einfach in der Literaturmaschine machen. Ich halte die deutsche Vorherrschaft in Europa und - nachdem Donald Trump die USA so unfassbar beschädigt hat - der Welt nicht nur für ästhetisch uninteressant und historisch bedenklich, sondern auch für gefährlich, denn sie provoziert nationalistische Entwicklungen in allen EU-Ländern. Auch wenn ich Angela Merkel für ihre (zumindest auf den ersten Blick) liberale Migrationspolitik sehr respektiere (und auch für nicht viel mehr), die CDU richtet mit ihrer marktradikalen, umweltschädlichen, kriegerischen Politik nicht nur in Europa Schaden an. Solang sich die deutsche Sozialdemokratie nicht grunderneuert und mit einer linken, nachhaltigen Politik (getragen von einer breiten, pluralen Zivilgesellschaft) dazu beiträgt, die Verhältnisse in Europa und der Welt radikal zu verbessern, gehört Europa den phantasielosen Konservativen und den gierigen Milliardären, denen sie hörig sind. Als jemand, der sich gern mit der Geschichte "seines" Landes beschäftigt, darf ich den zarten Hinweis wagen, doch bitte niemals die Depressionen eines Volkes zu unterschätzen. Meine Mutter kann ich dafür hassen, dass sie sich nicht von meinem unter furchtbaren Arbeitsbedingungen depressiv und aggressiv gewordenen Stiefvater hat scheiden lassen: aber es gibt niemanden, den ich dafür hassen kann, meinen Vater depressiv gemacht zu haben. Manchmal allerdings bin ich versucht anzunehmen, dass die SPD unter Gerhard Schröder irgendetwas damit zu tun hat und dann verspüre ich die Lust, mich Demien Schröder zu nennen.

Demien Bartók ist ein fiktiver Charakter, wie jeder Name, ob selbst- oder fremdbestimmt. Je länger ich an diesem Buch schreibe, umso sicherer bin ich mir, zukünftig auf jeglichen Namen verzichten zu können.