Meine Maske

Der Grund weswegen ich eine Maske trage: ich möchte nur zu meinen Bedingungen auf der Bildfläche erscheinen: ich möchte nicht Eure Gesichtsspiele mitspielen: es reicht, wenn der Klang meiner Stimme für Missverständnisse sorgt: ich bin keine Person und will nicht als solche behandelt werden: es gibt mich nicht, es kann mich nicht geben, also will ich auch nicht so tun. Warum sollte ich zu meinem Gesicht stehen? Meine Augen verraten Euch nichts! Ich bin ganz und gar Sprache, Wort und Klang: niemals will ich ein bestimmtes Gesicht haben oder verwechselt werden mit Dingen, die ich nur aus Not getan habe, aus Unwissen. Ich bin nicht was ich tun muss, sondern was ich tun will. Der Befreiungsschlag des Jahres: ich kann mit mir machen, was ich will: meine Kleidung und meine Masken und meine Songs und Texte und öffentlichen Performances sind Medium und Substanz meiner Selbstverwirklichung, meiner Ich-Definition. Nur das, was ich kontrolliere und gestalten kann, gehört zu mir: mein Gesicht nicht hinnehmen bedeutet für mich, mich ernst nehmen: ich bin ein fiktiver Charakter und kein wahrhaftiges Individuum. Meine Rolle als dissoziierter Künstler polstert meinen Lebensraum, bevor die Verrohung und Verdüsterung Europas mit ihre Finger in den Arsch schieben kann - und ich steige in mein riesiges, rotes Geierkostüm, hüpfe das Treppenhaus runter, falsch und erschöpft grinsend, monatealter Staub fällt von mir ab, während ich mir den Geierschnabel in mein Gesicht spanne, ich stoße die Haustür auf, schüttel mich wild schreiend durch, die Menschen erschrecken, es fährt ihnen kalt die Schulter herunter, drei Alarmanlagen springen an, mein dickflüssiger Sabber tropft mir auf meine nackten Füße, ich wische ihn mir an meinen Federn ab, die ihre volle tropische Pracht erst im müden, graupolierten Nachmittagshimmel entfalten. Ich schaue den Leuten nacheinander scharf in die Augen und gackere: "Klarsicht und Genusssucht widersprechen sich. Man muss sich entscheiden, ob man der Wahrheit oder der Lust folgen will." Die Menschen ringsherum wissen nicht, ob sie aufatmen können. Ich hoffe sie glauben mir, dass ich ihnen nichts böses will. Ich trotte über die Straße, werde beinah von einer fetten Karre angefahren, ich möchte mir einen Kaffee in der Stadt kaufen, so Viele schauen mich hart und feindselig an, als fühlten sie sich von mir beleidigt. Einige Leute, es müssen Touristen sein, haben erfreute Gesichter und wissen, dass sie nichts zu befürchten haben. Sie grüßen mich und fragen, ob sie ein Foto machen dürfen: da ich maskiert und kostümiert bin, hab ich nichts dagegen. Zwei Kreuzungen weiter werde ich von zwei Streifenpolizisten angehalten, zu meinem Kostüm ausgefragt und an die Wand gestellt, um mich nach Drogen und Waffen zu durchsuchen. Sie finden nichts und wir wünschen uns noch einen schönen Tag. Ins Café Hilgenfeld darf ich nicht, "weil wir keine Clowns bedienen!", ich fühle mich bestätigt, versuche es im Speicher, aber auch von dort werde ich mit einem großen Besen vertrieben, "es ist nicht die Zeit für diesen Quatsch!", ich gehe leichten, traurigen Herzens ins Kleine Venedig, das frische Gras, die kräftigen Bäume, der kühle, saubere See! Semir sitzt mit seinen Freunden am Ufer, sie trommeln und singen und rauchen und tanzen. Ich setz mich zu ihnen und ihr dunkles, pelziges Trommeln, ihr Schreien und Herumwirbeln schüttelt mich richtig kräftig durch und ich rutsche in eine Trance, die mich vergessen lassen muss, in welcher scheußlichen Fabrikhalle von Stadt ich wohne, welche Kälte und Dummheit meinen Landsmännern ins Gesicht geschrieben steht. Die Stadt ist vielleicht ein Organismus, dessen Adern mit kollektiven Ekstasen entkalkt werden können; zu diesem Zweck müsste sich alle Kunst verbünden, denk ich mir und kurz darauf hab ich ganz vergessen, welche Eigenschaften diese Stadt hat und entdecke die Lust mir vorzustellen, was in dieser Stadt alles möglich sein könnte.