Ostdeutschland und Verzweiflung

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Ein kalter, heller Morgen, fröhliche Vögel, ein weicher Himmel, der etwas mit dem harten, frostigen Boden zu tun hat, ich trinke mit einer Bombilla zu viel Grüntee aus der Teekanne, knabber mein Nagelbett auf, während ich den Kater im vermüllten Hof beobachte. Auf dem Dach der Garage unter meinem Fenster liegen vermoderte Bretter und ein altes Kopfkissen und Glasscherben. Die Leute, die hier wohnen lieben es, Dinge aus dem Fenster zu werfen und auch ich schütte gern Nudel- oder Bongwasser in die Tiefe. Der Kater hat eine Maus erwischt, er spielt mit ihr wie ein kleiner Junge einer Fliege die Beinchen herausreißt oder besoffene Atzen eine süße Schwuchtel vermöbeln.

Erfurt ist keine besondere Stadt. Als Autor sehe ich es keinesfalls als meine Aufgabe, uninteressanten Gegenden etwas Interessantes zu entlocken: mir reicht es, mich an dieser tristen Ereignislosigkeit aufzugeilen. Je öder eine Stadt, desto lebendiger fühle ich mich. Ich ärgere mich über jeden Graffiti-Künstler, der sich anmaßt, diese Stadt zu verschönern. Die Tristesse der Stadt kann man nicht in Farbe ertränken, sie kommt immer wieder durch und zum Leidwesen aller Dichter und Musiker ist es keine poetische, zarte Tristesse, Erfurt ist nicht melancholisch, Erfurt ist auf ganz brutale und banale Art depressiv und niemand kann etwas dagegen tun, deshalb muss die Stadt abgeschafft werden und ich fühle mich allen verbunden, die ihren Beitrag dazu leisten. Alles was diese Stadt an Kultur bietet, erfüllt die gleiche Funktion wie ein paar Flaschen Bier oder Schnaps für genervte oder gelangweilte Arbeiter zum Feierabend. Die Kunst dient hier nicht der seelischen und moralischen Erbauung, sie ist lediglich eine kleine, bescheidene Freude für orientierungslose Versager und elitäre Spießer und immer, wenn jemand rennt, um noch die Straßenbahn zu erwischen, hoffe ich, dass er es nicht schafft - ich liebe enttäuschte Gesichter, ich liebe die kleinen und großen Unglücke, die Erfurter ereilen und manchmal rutscht mir ein lautes Lachen heraus, echte, purpur-strahlende Schadenfreude.

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Wie schön ist es, sich in Nürnberg als Liedermacher im Klub der betrunkenen Diebe breit zu machen! Ich liebe es, meine Forderungen einer gemütlichen Abschaffung Erfurts maifarben in die Geisterbahn zu trällern, in die ich und meine großartigen Freunde einmal im Monat das Kulturhaus ZUR SCHABE verwandeln dürfen. Die Lieder die ich vor mir habe, wollen in ein altes, freundliches Harmonium gequält werden. Der Junge mit dem schönen Schornsteinfeger-Gesicht macht den dicken, frivol-schnatternden Damen die Tür aus Pappkarton auf. Ein Notarzt braust vorbei, irgendjemand hatte einen Unfall, irgendjemand hat seinen Horizont erweitert oder ist mit Engelstrompeten-Nachtisch im Frontallappen vom Zehnerturm auf den hämischen Beton der Insolvenz gestiegen mit nur einem einzigen Schritt. "Was für ein Trottel!", feixt der Perückenmann und kratzt seinen zotteligen Bauch. "Möchtest du mein Manager sein?", frag ich ihn und er antwortet kühl: "Vergiss es!" und wir lachen beide. Je öfter wir uns treffen, desto sympathischer wird er mir. Ich nuckel an meiner Bierflasche und hab Lust, mit all den Leuten im Raum in Ambientemusik zu meditieren. Kollektives Zur-Ruhe-Kommen.

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Nächster Tag. Grauer, regnerischer Busbahnhof. Nürnberg ist eine urige, massive Stadt, ich liebe die vor Kraft und Würde strotzenden Brücken und Türme bewachsen von altem Moos. Zwar haben auch hier die Geschäfte und Autos die absolute Oberhand, aber die Menschen sind reifer hier, sie haben keine paranoiden oder beschämten Augen und fühlen sich vom schroffen Nieselwetter nicht bestraft und haben noch wirklich interessante Probleme im Kopf.

Ostdeutschland ist der kleine, infantile Bruder von Westdeutschland, der in den Jahren im spießigen, staatssozialistischen Ghetto deutlich an Intelligenz, Geduld, Haltung und Frohsinn eingebüßt hat. Im Osten walten immer noch die selben zermürbenden Kräfte der Proletendiktatur. Wie man damals alle Intellektuellen, die nicht linientreu gewesen sind, aus Angst und Verachtung unterdrückt hat, herrscht auch noch 30 Jahre nach der Wende eine perverse Abscheu vor gebildeten, eloquenten, den allgemeinen Menschenrechten verpflichteten Publizisten, Künstlern, Politikern und Lebemenschen. Selbst wer als junger Mensch nach dem Mauerfall Abitur gemacht hat, trägt den Pessimismus, die irrationale Treue gegenüber autoritären Prinzipien und die kleinmütige, gefühlskalte Schrebergärtner-Art seiner in der DDR sozialisierten Eltern, Lehrer und Vorgesetzten in sich. Eine patriotische Rede des Kanzlers und 100 Mark Begrüßungsgeld waren einfach nicht genug, um die Ossi-Kultur aus den Köpfen zu bekommen. Schade. 

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Zurück in Erfurt. - Was sind all die Probleme der Mächtigen und Wohlhabenden auf der Welt gegen die Not eines stillen, kaum sichtbaren Zurückgebliebenen, kurz bevor der Vermieter an die Tür klopft und sehen will, was hier gespielt wird!? Warum haben wir bloß keine Miete gezahlt? Wer sind wir? Was erlauben wir uns? Es gibt keinen Grund, in die Details zu gehen, denn die Details sind schlichtweg nicht vorhanden! Bis 14 Uhr hab ich Zeit! Ich muss mein Zimmer so herrichten, dass es aussieht, als wäre es unbewohnt. So viel ist nicht zu tun, all mein Besitz passt unter mein Bett. Pflanzen die unter Prohibition stehen, werden im Keller versteckt, das Gesicht zart mit Kohle eingerieben, damit ich berufstätig aussehe, Kleidung gerade gerückt, stillgestanden, sobald es klopft, reiße ich so charmant wie möglich die Tür auf und sage was?

Ich beschließe, doch nicht anwesend zu sein, wenn das Walross kommt. Ein Zettel muss reichen: "Schauen Sie sich um, der Schlüssel steckt, liebe Grüße." Ich muss den Schlüssel stecken lassen.

Wäre doch der Perückenmann hier, er würde schützend seine Ratlosigkeit zwischen mich und das Tier schweigen. Der Perückenmann bringt es fertig zu stottern sogar wenn er nichts sagt.

Wie viel größer wäre mein Leid, würde ich nicht dem Wahn verfallen sein, der aus meiner Romantisierung des einfachen Lebens gewachsen ist und mir dieses Buch geschenkt hat! Wie viel größer ist das Leid derer, die keine Ausrede haben? Die zu stolz sind, sich in die Scheinwelt der Kulturfabrik zu begeben? Der Künstler kann nicht wirklich empathisch mit den Verzweifelten sein, wenn ihm seine Kunst Halt gibt. Der Verzweifelte hat gar nichts mehr. Niemand, der noch Tasten tippen oder Pinsel schwingen kann ist im Stande, sich echte Haltlosigkeit zu vergegenwärtigen. Er weiß nicht, was es heißt, den Boden unter den Füßen verloren zu haben. Das authentische Zeugnis dieser großartigen Leere und Angst kann nur im Ausagieren der Sprach- und Tatenlosigkeit liegen. Erst wenn ich in der Lage bin, nichts mehr zu tun, wenn ich kein festes Heim mehr habe und keinen Beruf, der wie eine Wirbelsäule mein Wesen definiert, erst wenn ich wirklich ausgestoßen bin, dann erst habe ich mich und meine schäbigen Rollen überwunden, dann beginnt die Performance ans Mark zu gehen: nun, zumindest an meins.